BLUNTSCHLISTRASSE – DER LEBENSABEND

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Ein-Zimmer-Wohnung Bluntschli-Straße! Was für ein Name auch, odr?! Bluntschli! Diese Schweizer! Paul Schmeil war genervt und kratzte sich besorgt am Hinterkopf. Wie würde er zurechtkommen mit so viel weniger Raum und vierhundertachtundzwanzig Euro monatlich für seinen Lebensunterhalt inklusive Strom? Und das bei solch subkutaner Verspottung durch das Amt, was freilich keine Absicht ist, dachte Paul. Immer habe ich aber doch in Straßen gelebt, deren Namen entweder etwas Naturschönes in sich tragen oder auf historische Persönlichkeiten hinweisen, die ich schätze oder die mir zumindest nicht querkommen, erinnerte er sich: die Sophie de la Roche-Straße in seiner Kindheit und Jugend in Speyer am Rhein; die Neckarstraße als Student in seiner ewigen Stadt; die stolze Avenida Simon Bolivar für zwei Jahre in Bogotá, wo er eine Weile in einem Entwicklungshilfe-Projekt gearbeitet hatte, die Calle Pérez de Tudela für kurze Zeit in Lima  und nun schon im dreißigsten Jahr eben die Märzgasse, die sich in den letzten Jahren bezüglich der Lebensqualität kräftig gemausert hatte, ohne vom tosenden Heidelberger Tagestourismus erschlagen zu werden.

Ab der nächsten Woche also Bluntschlistraße! Förderwohnung und soziale Grundsicherung für Senioren, wie es offiziell hieß, da war er nun mit seiner beschämend niedrigen Rente angelangt! Verdammt nochmal! Ein veritabler Absturz! Paul befand sich mit dem Ende seiner Berufstätigkeit und dem Erreichen seines Rentenalters im rasanten Sinkflug, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wie sich die Landung für oder wohl eher gegen ihn emotional gestalten würde. Das Menetekel Altersarmut hatte ihn eingeholt und auch sein eigener Witz, den er früher gerne zum Besten gegeben hatte. „Frage: Woran merkt man, dass man alt wird? Antwort: Wenn die Wege in der Wohnung lang werden.“ Ich werde mich also verjüngen, grinste Paul grimmig, während er das Fenster seines Salons wieder schloss. Vielleicht wachsen mir dann ja auch wieder die Haare in sattem Dunkelbraun, wie früher, überkam es Paul mit einem Anflug von Sarkasmus! Er solle doch froh sein, nicht obdachlos zu werden, so etwas gebe es ja durchaus, hatten ihm die Sozialen auf dem Amt kürzlich ermunternd zu verstehen gegeben!

Paul Schmeil hatte sich bei aller Bedächtigkeit verschätzt oder besser gesagt verkalkuliert, als er nach der Trennung von seiner Frau und dem Auszug seiner vier Kinder das existenzielle Desaster bereits früh auf sich zukommen sah. Seine Strategie war am Ende nicht aufgegangen, auch wenn sie ihn für ein paar wichtige Jahre des Alleinseins noch getragen hatte. Statt angesichts der belastenden Kosten für den Unterhalt nach den gemeinsamen Jahren der Kindererziehung und wegen der hohen Folgekosten der Trennung die Flinte ins Korn zu werfen, hatte er den Vorwärtsgang eingelegt, sich autodidaktisch fortgebildet, neue Sprachen gelernt, und als freiberuflicher Berater von Entwicklungsprojekten im Ausland noch einmal mächtig aufgedreht, was seiner Gesundheit nicht gerade zuträglich war. Seine urgemütliche, aber teure Wohnung hatte er trotzig gegen den nicht immer fair gemeinten Rat seiner Umgebung gehalten, zwecks Erhalt seines Status im Berufsleben, weil er ein Büro brauchte, weil er Raum haben wollte für seine Kinder, für die familiären Besuche und Übernachtungen bis hin zum ersten Enkelkind. Alles sah für ein paar weitere Jahre nach Erfolg aus und war es in gewisser Weise auch gewesen.

Aber er hatte unterschätzt, wie sehr im Alter dann doch seine Kräfte nachließen und wurde ziemlich übel davon überrascht, wie desaströs es sich für ihn mit Blick auf die Rentenpunkte und schließlich die monatliche Zuwendung seitens der Versicherung auswirkte, dass er in den letzten Jahren seiner beruflichen Selbständigkeit nur wenig Beitrag für die Rente eingezahlt hatte. Gerade einmal achthundert Euro blieben ihm nun unter dem Strich, und seine Miete warm lag bei tausendzweihundert Euro, wegen steuerlicher Absetzbarkeit des Bürotrakts der Wohnung letztlich aber bei circa tausend Euro, solange er Geld verdient hatte und Steuern zahlte.

Paul hatte schon seit langem auf ein Auto verzichtet, was ja auch ökologisch sinnvoll war, und machte ausgesprochen selten Urlaub, aber um sich ein bisschen was zu gönnen und auch, um jedem seiner Kinder ein Studium, Reisen, IT-Ausrüstung, Markenkleidung zu ermöglichen, hatte er diese Strategie des Aufbruchs und der Vorwärtsverteidigung gewählt. Aber trotz seiner Einnahmen aus der Projektberatung drohten ihm die Kosten immer wieder davonzulaufen. Es war das sprichwörtliche Wettrennen zwischen Hase und Igel geworden. Nun stand er nach fünfundvierzig Berufsjahren also vor einem finanziellen Scherbenhaufen, zumal er nur minimale Rücklagen aus einer schon bald verbrauchten, kleinen Erbschaft hatte bilden können.

Paul, kein Musterknabe, aber durchaus kein Depp und auch nicht aus Dummbach, hatte all dies früh kommen sehen. War er zu blauäugig gewesen? Was hätte er tun sollen? Hinterher ist man immer schlauer, aber was wäre in seinem Fall das Schlaue gewesen? Er jedenfalls wusste es auch jetzt im Nachhinein nicht. Gewiss nicht zu riestern oder in Aktien zu machen und gewiss auch nicht jeden Eurocent umzudrehen, wie es die nahen Schwaben so vorbildlich tun, während sie ständig nur über Geld und Autos reden, ohne zu leben. Und gewiss auch nicht die herrliche Wohnung aufzugeben, die er als Büro mitnutzte und in die vielleicht eines Tages eine neue Lebensgefährtin einziehen könnte. Aber! Welche Frau will schon einen in die Jahre gekommenen Mann mit kaum Geld in der Tasche und vier Kindern auf dem Buckel, auch wenn die schon erwachsen sind, und dann sogar noch bei dem Kerl wohnen oder ich bei ihr, dachte Paul für Momente etwas zu sehr in eine Art Larmoyanz verliebt, denn er fühlte sich im Grunde ja keineswegs unattraktiv.

Dass er viele Kinder in die Welt gesetzt und mit großgezogen hatte (Abbau der Alterspyramide? Das war ja mal eine politische Losung!), zählte nicht. Dass er sich für seine Familie im Job aufgerieben hatte, blieb ohne positive Konnotation. Dass er bereits seit mehr als vierzig Jahren in seiner Stadt wohnte und auch dort engagiert war, war den Ämtern egal. Dass er dann auch noch in dem Versuch, sich im Alter noch etwas Einkommen zu sichern, mit der Schriftstellerei und Publikationen begonnen hatte, löste bei denen, die ihn kannten, Amüsement aus und wurde sanft belächelt. Lesen tat man ihn füglich nicht, die Feedbacks blieben schmallippig. Aha, Paul, der Schriftsteller, hieß es dann manchmal, und weil er auch Gedichte, nicht nur Kurzgeschichten schrieb, erkoren ihn die Kumpanen im Weinloch, jener angesagten Kneipe, übermütig zum Dichterfürsten. Aber geschenkt! Paul konnte in seinem ihm nachgesagten Stoizismus nichts davon falsch finden, sowieso das Schreiben nicht, das ihm enorme Freude bereitete, auch wenn es ihm bisher kaum etwas einbrachte. Und existenzialistisch, wie er gebürstet war, bereute er von all dem rein gar nichts. Er konnte die Dinge im Geiste noch so sehr hin und her bewegen und abwägen, er hatte nicht das Gefühl, etwas Grundlegendes falsch gemacht zu haben. Vielmehr kam er immer wieder zu demselben Ergebnis: „Ich bin ab einem bestimmten Moment mit dem Schlitten sehenden Auges rasant zu Tal gefahren, aber irgendjemand hat mich wie ein Kind auf dem Schlitten festgezurrt, und hätte ich mich losmachen können, wäre ich in den eisigen Schnee gefallen.“ Nein, er hatte nichts wirklich falsch gemacht, nun aber den Salat! Jetzt war er in den Händen der Sozialen.

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