Der Gutachter

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Rummsdibums das Giggerltum! Die schweißschwänzigen Schwielenschweine waren nach kurzem Auslauf zurück in den Stall, ihre kotige Klause, gejagt, die weißwandigen Wirrwürmer im Hof mit einem harten Besen zusammengefegt und für die Nacht in die feuchte Grube geworfen worden. All die auf diese Weise verzauberten, großen und grimmigen Despoten hatten es mit einer wahren und gestrengen Meisterin der Magie zu tun bekommen. Und auch all die kleinen Folterer und Sadisten dieser Welt sollten endlich qua Verwandlung durch sie ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Zirze, die Göttliche, kannte seit längerem schon für solche Wesen, die unseren einst so harmonischen Planeten in Angst und Schrecken versetzten, kein Pardon mehr – anders als noch zu den Reisezeiten des Odysseus, der der Zauberin gegenüber immun war, und seiner ihn begleitenden Leute, denen sie auf dessen druckartiges Bitten hin die Rückkehr vom säuischen Dasein ins Menschsein gewiss nicht ganz ohne frauliches Eigeninteresse gewährt hatte, damals auf jener Klageinsel Aiaia! Sie hatte ihre Strategie längst verändert. Rummsdibumbs und Tanderadei und Aiaiai, für die Schlächter, jedenfalls für die, war´s nun vorbei!

All diese extrahumanen, gottlosen, wenngleich sich nicht selten auf irgend-welche Gottheiten berufenden Schreibtischtäter und Exekutoren mit ihrer unvorstellbaren, ja teuflischen Grausamkeit gegenüber beliebig Verdächtigten und Beschuldigten, gegenüber Wehrlosen und Unschuldigen sollten ihr Leben, den Rest, als grunzendes Borstenvieh oder ekelerregend sich am Boden im Dreck krampfende Winzlinge fristen, bis selbst sie dann eines Tages erlöst würden. Zweitausendfünfhundert Jahre und sie hatten nichts, rein gar nichts gelernt, nichts begriffen, diese eitlen Tyrannen, trüben Sadisten, gehorsamen Menschenschinder, immer wieder derselbe Unmenschenschlag. Es war genug, sie hatte endlich eingegriffen! Zirze rührte und rührte mit ihren Spinnenfingern, einen schwarzen Spitzhut auf dem Kopf, unter Zuhilfenahme einer verlängern-den Kelle ungerührt und entschlossen im brodelnden Kräutersud des riesigen Eisengusstopfes, aus dem die giftigen Dämpfe aufstiegen, mit denen sie die Verwandlungen zu betreiben pflegte. Ihr selbst konnte dieser Qualm nichts anhaben, sie war in ihrer Zunft vor allen Unbilden auf immer geschützt.

Seines Zeichens Entwicklungsberater Thorsten Grillmeier stand in der schmalen Küche seiner großen Altbauwohnung, wo er sich einen vor Wochen bei der Rückkehr von seinem letzten Einsatz nicht ganz legal importierten Koka-Tee zubereitete und ließ, soweit dies eben ging, den seltsamen Traum noch einmal revue passieren, bei dem sich alte schulische Sagenfragmente aus dem damaligen Griechisch-Kurs und dadaistische Reimversuche im Deutsch-Unterricht mit seinen manchmal verstörenden Reiserfahrungen und den überbordenden Alltagsnachrichten über das böse Geschehen in der Welt auf irritierende Weise vermischt hatten. Was wollte er sich selbst mit jenem Traum mitteilen, an dessen Ende er von einem lauten Zischen, als Zirze gerade mal wieder eine Schöpfkellen-Portion Soße auf den kalten Steinboden verschüttet hatte, ungestüm erwacht war, jedoch nicht wie sonst schweißgebadet und beklommen, sondern diesmal einigermaßen erholt und nachdenklich und gerne noch etwas weiter ruhend, ja kuschelnd unter der flauschigen Bettdecke? Alsbald hatte dann der Wecker musiziert, der neue Tag war angebrochen und er hatte das Bett aufgeweckt und mit Tatendrang angesichts der bevorstehenden Reise verlassen.

Immer wieder mal packten ihn vor seinen beruflichen Auslandseinsätzen, wie man dies offiziell und etwas militärisch anmutend in der Branche nennt, irrlichternde Träume solcher Art. Im Morgengrauen der Nacht vor der Abreise zumeist, dann waren sie im Großen und Ganzen erst einmal verschwunden. Manchmal waren die Träume auch so heftig, dass er wirklich nassgeschwitzt erwachte. Es kam in den Traumbildern meist eine große, schemenhafte Gestalt vor, ein riesiger, grauer Mann, der nicht lachte, niemals sprach, niemals eine Regung zeigte und der ihn, Grillmeier, warum auch immer, gnadenlos verfolgte. Der gelassen und gemessenen Schritts im Inneren eines großen Hauses, über dem Nebelschwaden hingen, umherwandelte, ein Gebäude, aus dem es kein Entkommen zu geben schien. Bewehrt, diese eiskalte Furchtgestalt, mit einer versteiften Nagelpeitsche aus Hartleder, die an der Spitze einen kleinen Schlangenkopf aus Silber trug. Er ließ jedoch die anderen Hausinsassen in Ruhe, tat ihnen, die jedes Mal bei seinem Anblick wie zu Tode erstarrten, niemals ein Leid an. Der Hundsfott hatte es ohne erkennbaren Grund immer nur auf Grillmeier abgesehen, der verzweifelt versuchte zu fliehen. Und wenn dann der gestrenge und unnahbare Gebieter, zum ersten Mal lächelnd, sardonisch lächelnd, mit erhobener Gerte vor ihm stand, um ihm, der, schaudernd in die Ecke gedrängt, eine Dachluke – letzte Hoffnung! – zu öffnen versuchte, den Garaus zu machen, wachte er stets wie mit einem Blubb in die Wirklichkeit gestoßen und mit blassbleichem Gesicht auf.

Wieder einmal war dann Grillmeier auf wundersame Weise entkommen – bis eben zum nächsten Mal. Ähnlich war dies wie in jener alten TV-Fortsetzungsserie mit 120 episodischen Folgen aus den frühen Sechzigern, wo dem wegen eines angeblichen Mordes an seiner Frau zum Tode Verurteilten, einem charismatischen Arzt, zu Beginn immer die schwierige Flucht gelang, ihn am Ende der kurzen Folgen aber jedes Mal sein knallharter Widersacher wieder einfing: Dr. Kimble – Auf der Flucht. Als gerade Pubertierender hatte er sich damals die meisten Episoden mit Faszination angesehen, obwohl er hinterher oft nur mühsam einschlafen konnte.

Jetzt, fünfundvierzig Jahre später, ein sich andeutender kühler Spätsommertag, nachdem er aufgestanden war und sich in aller Ruhe fertiggemacht hatte, nippte er an dem fremdartig duftenden Tee, einer seidig-hellgelben Brühe in seiner Lieblingstasse aus feinem Porzellan, und zog an seiner schmalen Frühstückszigarre, einer kubanischen Partagas. Um diese frühe Zeit pflegte er noch nichts Essbares zu sich zu nehmen, er zog das Ungesunde vor, das ihn in den Tag brachte.

Eine gute Stunde später saß er mit Ziel International Airport gebügelt und geschniegelt zusammen mit fünf weiteren, etwas müde wirkenden Passagieren im flotten Zubringerbus, einem metallgrauen, komfortablen Kombi, dem man außen standesgemäß mehrfach das Symbol eines Kranichs aufgetragen hatte. Zum Glück kein Adler, dachte Grillmeier. Aber wozu plagte er sich mit der Angemessenheit der Vogelart als Markenzeichen herum, solchen Lappalien, sinnierte er vor sich hin, während er sich mühsam den Sitzgurt umtat und ihn einklickte. Er war mit der Zeit etwas in die Jahre gekommen, korpulenter geworden und der Bauchansatz machte den sicherheitstechnischen Regelvollzug nun doch schon beschwerlicher.

Seine immerhin fünfundsiebzigste „Mission“ weltweit im Alter von siebenundfünfzig Jahren nach vierundzwanzig Berufsjahren als Fachkraft für berufliche Bildung und Qualifizierung, stellte er in sich versunken fest und dachte darüber nach, ob dem Zahlendreher sieben-fünf, fünf-sieben irgendein haltbarer Sinn abzuringen wäre. Rein rechnerisch, im Zahlenspiel des Drehens, Addierens und Quersummierens, gab es diesen Sinn durchaus. Er freute sich über die mathematische Schönheit der Logelei wie über ein gutes Omen. Seine Projekte, seine Besuche vor Ort, hatte er immer akribisch notiert und sorgfältig in die Anlagen seines Curriculum Vitae übertragen, das die Auftraggeber, meist eine Entwicklungsorganisation oder eine einschlägige Consultingfirma, abzurufen pflegten, wenn sie ihn kontaktierten und sich an seiner Mitwirkung interessiert zeigten. Eine wirklich lange Liste an Einsätzen! Sie wussten seine Projekterfahrung längst zu schätzen, auch wenn das Interesse in letzter Zeit etwas nachgelassen hatte. „Herr Grillmeier, wie geht´s, schön, dass Sie weiter aktiv sind, wir würden Sie gerne als Teamleiter für eine Projektevaluierung im Bereich der Berufsbildung und Unternehmensförderung ins Boot nehmen. Es geht um einen Einsatz in einem eurasischen Land.“ Meistens hatte es dann geklappt, so auch diesmal. Was sein Auftragsquantum anging, war er über die Jahrzehnte durchaus erfolgreich gewesen. Da konnte er nicht klagen. Gemessen daran, dass er mit Vierzehn mal Förster werden wollte – sein allererster, ernsthafter Berufswunsch – und später gar Philosoph, handelte es sich zudem um eine erstaunlich abgewandelte, berufliche Entwicklung! Nicht selten machte ihm seine Tätigkeit sogar Spaß, in den letzten Jahren hielt sich dies jedoch aus Gründen, über die es noch zu berichten gilt, zunehmend in Grenzen.

Nun erwartete ihn also ein zehntägiger Aufenthalt vor Ort in einer schäbigen Diktatur, einer „unserer Diktaturen“, wie ein amerikanischer Präsident es einmal mit der ihm eigenen, zynischen Offenheit ausgedrückt hatte; einer Diktatur, deren brutales Regime seit dem Ende der Sowjetzeit an der Macht gehalten wurde, finanziell gepampert von Partnerländern und internationalen Geberinstitutionen aller Art, die sich dort tummelten, geschäftliche Interessen verfolgten oder flankierend die „Hilfe zur Selbsthilfe-Pose“ einnahmen. Es ging im Großen und Ganzen um Rohstoffe, es ging vor allem ums… GAS.

In diesem Partnerland waren Ausdrücke wie „Freie Meinungsäußerung“, „Versammlungsfreiheit“, „Pressefreiheit“ feindselige, ja unpatriotische Unwörter, allein schon deren verbale Benutzung in der Öffentlichkeit gemaßregelt wurde. Rasche Inhaftierungen ohne Haftbefehl, meistens in der Dunkelheit, waren an der Tagesordnung oder sollte man sagen: Nachtordnung? Die Folter hielt sich dort, was die Zahl der Fälle angeht, in den letzten Jahren in Grenzen, wie er wusste (er hatte sich informiert), fand jedoch periodisch statt, wenn einzelne Dissidenten sich nach Ansicht des Präsidenten bzw. des Geheimdiensts zu weit vorwagten. Es handelte sich dann um verordnete Staatsfolter mit Prügel und schweren anderen Misshandlungen in irgendwelchen, abseitigen Verließen, die keiner kannte und denen man sich auch besser nicht näherte. Die Vollstrecker wurden niemals bestraft, geschweige denn die Schreibtischtäter, von denen einige sich gerne auch mal selbst amüsierten, indem sie persönlich an raffinierteren Sessions der Qual partizipierten und Hand bzw. Apparaturen, die größtenteils in westlichen Ländern angefertigt worden waren, anlegten.

Eigentlich hatte er den Auftrag getreu seinen Prinzipien absagen wollen („no deal with bloody governments“), aber er konnte sich solch eine Zurückhaltung diesmal nicht leisten, meinte er glauben zu sollen. Er brauchte das Geld, er hatte Familie, drei Kinder, die Mittel waren knapp und die Auftraggeber zahlten ordentlich. Dass er zu Hause sozusagen en passant zum Abbau der Alterspyramide beitrug, wofür man ihn in bestimmten Kreisen manchmal wie einen Goldfisch beäugte, zahlte sich in sozialer Hinsicht für ihn, für die Familie kaum aus. Und, so rechtfertigte er sich mehr oder minder überzeugt vor sich selbst, mit Hilfe zur Personalqualifizierung und Kompetenzentwicklung machte man ja erst einmal nichts kaputt. Bildung, wohl wahr, war ja nichts Schlechtes, redete er sich die Dinge schön.

Da waren die Erfahrungen einer früheren Referentin des zuständigen, deutschen Geberministeriums, die vor vielen Jahren nach „ihrer letzten Dienstreise“ nach Bangladesch mutig von „tödlicher Hilfe“ gesprochen hatte, als sie merkte, wie verheerend sich der Einsatz giftiger Düngemittel auf das Leben der einbezogenen Zielgruppen vor Ort auswirkte, und dann konsequenterweise gekündigt hatte, ein ganz anderes Kaliber gewesen. Meinte Grillmeier vergleichend im Modus des Whataboutism.

Seine Vorbereitung auf die Mission war in den letzten Tagen vor Abreise wie gewohnt routiniert verlaufen. Sowieso stand der schwarze Rollkoffer immer schon halb gepackt in der Wohnung bereit. Er wurde mit feinen Hemden, zwei dunklen Jacketts und passenden Hosen aufgefüllt. Auf die ungeliebten Krawatten verzichtete er inzwischen. Nur nicht den Pass mit den vielen Stempeln (Ist der noch gültig?), die Scheckkarte, den Ticketnachweis und die begehrten Visitenkarten liegen lassen! Alles andere war zweitrangig und durfte, da vor Ort leicht ersatzfähig, auch mal vergessen werden.

In den letzten Tagen, der fachlichen Vorbereitungsphase, hatte er sich intensiv mit den inhaltlichen Vorgaben des Auftrags, den sog. Terms of Reference, wie sie das nannten, befasst. Hinzu kamen die Durchsicht und Auswertung einer Fülle von Materialien, die man ihm im Umfang von sage und schreibe zwei Gigabyte digital übermittelt hatte. Er kannte das schon. Jahr für Jahr war die Menge angewachsen und wurde immer feister: Zwischen- und Schlussberichte, Evaluationsergebnisse, ausufernde statistische Reihungen, Grundlagen- und Fachstudien, methodische Dokumente und komplexe LogFrames schier ohne Ende. Wer sich davon beeindrucken ließ, saß vor einem riesigen Dokumenten-Berg und dachte automatisch, dass Sisyphos ein besseres Leben gehabt haben mochte. Man sollte sich den ja durchaus als einen glücklichen Menschen vorstellen, wie Albert Camus in seinem philosophischen Hauptwerk, einem Versuch über das Absurde, am Ende resümiert hatte.

Grillmeier hatte sich mit den Jahren angewöhnt, diesen Wust an Material und die Manie der prononcierten Gründlichkeit, die dahintersteckte, weitgehend zu ignorieren. Er las das Zeug gar nicht mehr durch, vielleicht gerade noch ein paar Überschriften. Dies vor allem auch deshalb, weil die meisten Dokumente in einer abgehobenen und manierierten Fachsprache abgefasst waren, die ihm allmählich zum Halse heraushing. Letztlich waren die Wortwulste, all diese pseudostringent gestelzten Sentenzen, die unerträglichen und wenig aussagenden Floskeln und Formeln, aus seiner Sicht bloß noch Ausdruck einer „angebotszentrierten Projektimplementation“, bei der es den Auftraggebern vor allen darum zu gehen schien, sich  a priori vor aller Welt, gegebenenfalls der Presse und natürlich den Kontrollinstanzen zu rechtfertigen und den Projekterfolg von vorneherein auf dem Papier abzusichern beziehungsweise, wo dieser nicht vorhanden war, zu verbrämen. Darin liegt irgendwie etwas Zwanghaftes, räsonierte er. Sie hatten auf seltsame Weise in dieser kafkaesk anmutenden Systemik die Hosen gestrichen voll oder waren eitel bis zur Halskrause, steigerte Grillmeier sich in seinen Missmut weiter hinein. Oder sie litten, gerade im Kontext mit „Brüssel“, der EU, an der Parkinson’schen Krankheit, an den Folgen des bekannten institutionssoziologischen Gesetzes des innerten Bürokratiewachstums, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Schüttelkrankheit.

Grillmeier dachte, während er sich beruhigte und dann gelangweilt in den Dokumenten weiterblätterte, an die früheren Jahre seiner Tätigkeit, als man mit ein paar Papers ausgekommen war, auf die eigene Beobachtung und Expertise als Fachmann vertrauen konnte und das sichere Urteil erfahrener Gutachter im persönlichen Umgang durchaus auch wertgeschätzt worden war. Damals war auch nicht immer alles einfach gewesen, aber verdammt…. sie machen mir meine präzise und wendige Fachsprache kaputt, sie sind geisttötende Sprachkiller, fluchte Grillmeier erneut schlecht gelaunt bei der Vorbereitung vor sich hin. Es war nicht das erste Mal. Ja, so war es, sie verballhornten, um nicht zu sagen: verballerten Sprache als Medium der Erkenntnis und reichten sich in den zahlreichen, befassten Fachteams gestanzte Formulierungsmonster herum, sodass am Ende ein Schlussbericht dem anderen fast wie ein Ei dem anderen glich. Das Papier nicht wert, wenn er überhaupt noch ausgedruckt wurde.

Das Ganze hatte System, es gab da kein Entkommen, es sei denn man scherte aus. Einmal, vor zwei drei Jahren, hatte er sich in einer gemeinsamen Vorbereitungsrunde erlaubt, diese Dokumentenzockerei, das Wort verwendete er natürlich nicht, in überlegten und gemäßigten Worten zu monieren. Er erntete daraufhin bloß ernste Blicke und betretenes Schweigen. Man verstand ihn schlicht nicht oder weigerte sich zu verstehen, aber bei jener Auftraggeber-Institution war er fortan aus dem Rennen. Weitere Anfragen, vorher ohne Seltenheitswert, blieben einfach aus. Es ärgerte ihn und zugleich war es ihm egal. Am Ende musste er bloß noch kichern, wenn so etwas vorkam. Er gewann in diesem Konflikt mit der Zeit an Statur.

Zugleich konzentrierte er sich inzwischen mit einem gewissen Pragmatismus völlig auf die resümierenden Sachaussagen einiger weniger Texte, die sog. Summaries, und auf die Wirkungsmatrix, ein Modell, das immer das Kernstück seines Auftrags bildete. Diesmal sollten gegen Ende der dritten Phase des Vorhabens auf der Grundlage des bisher Erreichten in einer neuen Durchführungsphase, für die potenziell noch einmal 1,2 Mio. Euro auf drei Jahre zur Verfügung standen, in möglichst großer Zahl marginalisierte Jugendliche vor Ort, insbesondere junge Frauen, qualifiziert und in Arbeit gebracht werden. Hierfür bedurfte es einer neuen Machbarkeitsstudie, und diesbezüglich war er angefragt worden.

Besagte Wirkungsmatrix ist ein Log Frame-Gebilde, das, wie er einmal recherchiert hatte, schon früh in ersten Versionen im Umfeld des US-amerikanischen Pentagon für logistische und strategische Zwecke entwickelt worden war, um die zielorientierte Projektplanung, damals militärstrategische Verteidigungs- und Angriffsplanung, auf sichere Füße zu stellen. Von dort war das verfeinerte und angepasste Instrument dann über die OECD, deren internationales Entwicklungsforum, bis nach Europa und in die deutsche Entwicklungszusammenarbeit vorgedrungen und bildete bei den modernen Vorhaben der meisten großen Geberländer seither das Maß aller Dinge. Ein früherer deutscher Minister übrigens, ein Neoliberaler comme il faut, jener mit der olivgrünen Kappe und dem fliegenden Teppich, hatte vor wenigen Jahren mit Vehemenz darauf beharrt, nicht mehr von „Hilfe“ und „Gebern“ zu reden, sondern von einem beiderseitigen „Geschäft“ auszugehen, der Kreierung von Win Win-Situationen nämlich, erinnerte Grillmeier sich betreten, während der Kleinbus gerade in den langgezogenen Airport-Steig einbog und an der für die Kranich-Kombis reservierten Haltestelle sachte zum Stehen kam. Entwicklungshilfe!

Der Gutachter löste den Gurt, zog seine Jacke zurecht, schob dann die Seitentür zurück, stieg aus und nahm vom hilfsbereit herbeieilenden Fahrer am hinteren Teil des Wagens sein Gepäck entgegen. Dann strebte er raschen Schritts auf die Glasdoppeltür ein paar Meter weiter zu, die sich automatisch öffnete und befand sich prompt im Terminal 1 in Abflughalle A. Dort umgab ihn sogleich das  Gewusel der unzähligen Passagiere mit ihren modischen, kleineren und großen Rollkoffern, die entweder erlöst nach draußen entschwanden oder zu den Schaltern strebten, wo das uniformierte Personal der vielen Fluglinien geschäftig agierte und sich lange Warteschlangen gebildet hatten. Es war noch Hochsaison, und es mischten sich Touristen und Geschäftsleute.

Er selbst war sich dabei einmal mehr im Klaren, dass er ab sofort wieder für zwei Wochen ein Anderer sein würde – getreu dem bekannten Diktum, das man dem Dichter Rimbaud zuschreibt: „Ich ist ein Anderer.“ Den Auftakt zu diesem ihm schon vertrauten Identitätswechsel bildeten die misstrauischen Checks an den vielen Kontrollstationen, die es zu passieren galt, bis er im Transitbereich war. Wenngleich er an manchen Stellen sein Privileg als Business Class-Reisender durchaus nutzen konnte, so fühlte er sich nach solchen Stafettenläufen immer wie verwandelt. Einer Zirze bedurfte es hierzu nicht, und er wurde auch nicht zu „Borstenvieh mit Schweinespeck“. Aber alles an und in ihm fühlte sich wie umgekrempelt an.

Grillmeier schlich bei seinem Check-in-Schalter an der Warteschlange vorbei in den privilegierten Bereich, wo noch niemand stand und legte einer uniformierten Empfangsdame mit russischem Touch, eine Deutsch-Russin vielleicht, dachte er, seinen Pass und die Flugbuchungsbestätigung vor. Innerhalb von wenigen Minuten ward der Koffer aufgegeben, und er konnte seinen Weg mit Bordkarte und einer Einladung in die VIP-Lounge im Inneren von Terminal 1 fortsetzen. Dort strebte er letztlich hin und dort würde er auch einen Kollegen der „Firma“, seiner Auftraggeber-Institution, treffen. Sie hatten sich für den gemeinsamen Einsatz pflichgemäß verabredet.

Der Gutachter durchmaß trotz seiner beidseitigen Fersensporne, die ihn seit Monaten plagten, nun eilig, obwohl noch reichlich Zeit war, den A-Bereich der Halle, machte kurz Halt an der Passkontrolle, wo ihn ein junger Mann im hellbraunen Uniformhemd mit grünen Schulterklappen anstarrte und zugleich in seinem Pass blätterte, und stellte sich im Anschluss hundert Meter weiter beim Sicherheitscheck an, bis er – man hatte seine andersartige Bordkarte, die er in den Händen hielt, bemerkt – in den Easy Security-Bereich gewunken wurde, wo er wiederum kaum warten musste, nur zwei Passagiere noch vor ihm. Allerdings galten natürlich auch für ihn die üblichen Kontrollregeln: Laptop raus, Schuhe aus, Gürtel ab, Hosentaschen leeren, Wasserflasche entsorgen, usw. Auch sein Corpus Delicti wurde gnadenlos gescannt, sie hatten gewiss auch seinen geblähten Bauch gesehen und forschend danach geschaut, ob er vielleicht Drogen verschluckt hatte und wenn dem so gewesen wäre, dann hätte er es mit dem Spürhund zu tun bekommen, aber seine wahre Droge war halt der Riesling, er kam aus der Pfalz und mochte kein „Shit“. In den fast drei Jahrzehnten stressiger Touren um den Globus herum hatte er Niedrig- und auch Hochprozentiges in flüssiger Form allerorten mehr denn je zu schätzen gelernt, manchmal auch schon allein wegen der ihn umfangenden Morbidität, die ihn nicht selten belastete. Ein seltsames Gefühl von verknappter, gar verkappter Identität!

Nach der Sicherheitsprozedur konnte Grillmeier seine Utensilien, die nach einer Weile aus dem düsteren, schwarzgummilappenbewehrten Tunnelloch am Band hervortauchten, wieder aufnehmen. Er zog sich vollständig an, rückte sich zurecht und befand sich nun im Niemandsland des schönen, kommerziellen Scheins, im Transitbereich, wo das lähmende Gesetz der organisierten Langeweile auf ein keck überteuertes Shopping zu treffen pflegt. Früher war das mal anders gewesen, dachte er mit einem Anflug von Nostalgie. Es war, wenngleich er mit sich zu kämpfen hatte, in der Lage, sich dieser seltsam obszönen Versuchungen zu entziehen und stürzte regelrecht an den glitzernden Markenwarenwelten vorbei, den wirr duftenden Kosmetika, den aufdringlich arrangierten Spirituosen-Abteilungen, den Boss- und Armani-Hemden und Kleidern von Dior & Co., den bunten Pizza-Pasta-Ständen und Wiener Bäckereien, die keine waren.

Grillmeier wusste, wohin, nämlich spornstreichs in die Business Class-Lounge, wo ihn mit seinem längst knurrenden Magen ein reiches Angebot an Snacks, Nuss- und Chips-Variationen, Edelhäppchen, warmer, fleischlicher und auch veganer Kost, feinen Desserts und eine schier überbordende Auswahl an Warm- bzw. Kaltgetränken erwartete. Auch am späten Vormittag bereits standen da am Buffet neben den Kaffeemaschinen und Teekannen einschenkbereit der Chivas Regal oder Moët & Chandon, der Bordeaux, Rioja, Lemberger wie auch, na klar, feinste Rieslinge oder Chardonnays bereit, aber ihn, so hungrig, wie er gerade war und bodenständig dazu, interessierte momentan nur eines: die heiß-knackigen Würstchen mit Senf, einem frischen Brötchen oder einer Salzbrezel und einer würzigen Gurke aus dem Weckglas. Er war bei seinen Touren geradezu süchtig danach geworden und den Caterern der Lounge ausgesprochen dankbar, dass sie diese schlichte Kost seit einiger Zeit im Angebot führten, da sie clever erkannt hatten, dass viele Business-Gäste sich nicht unbedingt an Lachsröllchen, Thai-Fast Food oder  Avocado-Garnelen-Schnittchen erfreuen konnten, wusste diese Klientel doch, dass ihnen dies alles und noch viel mehr an spannender Fernkost nach Ankunft vor Ort bei ihren Meetings, im Rahmen der oft sehr ausgiebigen Lunchs und Dinners, die ihre Geschäftspartner und Gastgeber zu organisieren pflegten, viel authentischer dargereicht wurde, nahezu Tag für Tag, mittags wie abends.

Thorsten, der Entwicklungsexperte, erreichte nach ein paar Minuten endlich die Lounge, er musste nur eine Treppe nach oben steigen und durch eine schwere Schallschutztür den riesigen Saal mit den ausladenden Ledersitzgruppen und pompösen Fernseh-Monitoren betreten, im Hintergrund die langgezogene Sicherheitsglaswand, die den Blick großzügig auf die abfliegenden oder einschwebenden Flieger, auf das gesamte Rollfeld freigab. Er zeigte an der Empfangstheke seine Einladung vor und wurde eingelassen. Sie würden ihn aufrufen, wenn es Zeit wäre, zum Boarding am Gate 17 zu gehen, der nur dreißig Meter entfernt war. Bis zum Abflug waren es noch satte zwei Stunden. Er war, wie immer viel zu früh dran, aber er mochte das. Sein Teamkollege, ein nervöser Hektiker, wie Grillmeier wusste, würde noch auf sich warten lassen, er kannte ihn von einem früheren Einsatz her, der allerdings schon Jahre zurücklag. Damals waren sie gemeinsam in den Nordostkongo geflogen, die letzte Etappe beim Rückflug nach Entebbe in Uganda mit einer wackeligen Iljuschin, einem Zwölfsitzer aus sowjetrussischen Beständen, wie er sich amüsiert, aber auch leicht schaudernd, erinnerte. Diese Maschine bzw. die kleine Airline, waren damals in der ominösen Schwarzen Liste eingetragen, was er aber nicht gewusst hatte.

Grillmeier wählte eine freie Sitzecke mit Blick nach draußen aus, legte seine Sachen ab und bediente sich sorgsam am nicht weit entfernten Büffet, wo die präsentierten Platten vom zuständigen Personal aufmerksam und stillschweigend nachgefüllt wurden. Nachdem er seinen Appetit erst einmal mit besagten Wiener Würstchen (oder waren es Frankfurter?), die in einem offenen Thermobehälter warmgehalten wurden, gestillt und dazu ein kräftigendes Pils genossen hatte, sah er flüchtig zwei drei Tageszeitungen durch, die man ihm anbot, und begann dann alsbald, in den Ledersitz gefläzt, einzunicken. Als er erwachte, war ihm, als wären Stunden vergangen. Er erschrak etwas, sah auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass nur eine knappe Viertelstunde vorbei war, die er völlig traumlos verbracht hatte. Alles war in Ordnung! Er platzierte sein Laptop auf dem Tischchen vor sich, öffnete es, fuhr es hoch und begann nach den gespeicherten Einsatz-Dokumenten zu suchen. Von seinem Kollegen noch keine Spur, hatte er beschlossen, sich einige Leitlinien, Strategien und vor allem auch die Agenda für den Aufenthalt vor Ort noch einmal genauer anzusehen.

Er scrollte sich durch die endlosen Item-Sequenzen, Zahlenreihen und Übersichten und versuchte sich ein Bild zu machen. Es sollten drei Standorte im Land besucht werden, wo das Vorhaben bereits Initiativkraft entfaltet hatte. Ein vierter Standort tief im Landesinneren, wo ganz neu eine Pilotinitiative implementiert werden sollte, konnte nur mit dem Flugzeug erreicht werden, der Landweg galt wegen sich häufender Überfälle islamistischer Gruppen inzwischen als zu gefährlich und war auch bei weitem zu langwierig. Wie auch immer, er hatte sich darauf einzustellen, dass er während der zehn Tage sehr viel, etwa ein Viertel der Aufenthaltszeit, im Auto oder Inlandsflieger sitzen würde, um mit seinem Kollegen und der lokalen Begleitung, d.h. einer Fachkraft, der Dolmetscherin und dem Fahrer, die circa dreißig geplanten Termine einschließlich Abschluss-Workshop mit Präsentation erster Beobachtungen und Ergebnisse aus gutachterlicher Sicht ansteuern und angemessen absolvieren zu können.

Nach der spätnächtlichen Ankunft und dem Transfer mit einer für die Fahrt ins Hotel georderten Limousine würde alles frühmorgens schon mit ersten Briefings bei der Deutschen Botschaft in der Hauptstadt, dem Auslandsbüro der „Firma“ und dem einheimischen Bildungsministerium beginnen. Für den ersten Abend war dann ein kleiner Empfang geplant; er wusste, dass dies nicht der einzige sein würde, auch wenn weiter nichts dazu in der Agenda stand. Sicherlich würde man ihnen vom Team mit allem Stolz im Verlauf der Woche auch ein zwei Sehenswürdigkeiten in der City oder außerhalb zeigen wollen, das Nationalmuseum vielleicht oder das berühmte Fort am Stadtrand.

Pro Tag hätten sie dann mit vier bis fünf Meetings zu rechnen, etwa bei staatlichen Stellen für das Berufsbildungswesen, bei ausgewählten Ausbildungsbetrieben bzw. der zuständigen Wirtschaftskammer, bei Bildungszentren, Colleges und Jugendeinrichtungen und nicht zuletzt auch bei kooperierenden internationalen Organisationen. Sie würden mit Hilfe der Dolmetscherin und möglichst konzentriert, aber mit Sicherheit alsbald im Tagesverlauf ermüdet, mit Bildungspromotoren, mit Geschäftsführern und Ausbildungspersonal, jugendlichen Kursteilnehmern, Fachleuten und Beamten sprechen oder konferieren. Ein finales Treffen mit dem umstrittenen, weil bekanntermaßen zu eigenmächtigen Vizebildungsminister, von dem man vermutete, dass er alsbald geschasst werden würde, war neben weiteren Debriefings am vorletzten Tag vorgesehen.

Er freute sich insbesondere auf die diversen Autotouren zu den nicht so weit entfernten Provinzstädten, denn dabei würden sie durch phantastische Berglandschaften mit klaren Lagunen, Steintürmen, Schneehügeln, martialischen Schluchten sowie an Wiesen und Wäldern vorbeifahren, wo sich Nomaden mit ihren Pferdeherden zu tummeln pflegten, wie man ihm erzählt hatte. Vielleicht bekamen sie ja Gelegenheit, auch eine private Jurte zu besuchen. In den Provinzen, so seine Erfahrung, war die Resonanz bei solchen Besuchen stark, waren die Empfänge immer besonders herzlich und gastfreundlich. Manchmal wartete dort dann auch schon die örtliche Presse oder ein lokales Fernsehteam auf die deutschen Besucher, um diese projektbezogen in Bild und Szene zu setzen.

Am letzten Tag dann, aus der Provinz zurückgekehrt, würden sie im Business-Room des größten Hotels der Hauptstadt vor fünfzig geladenen Projektteilnehmern referieren oder, besser gesagt, ihre Power Point- Präsentation arbeitsteilig abspulen und die zentralen Befunde, wie dies halt so üblich war, in einem möglichst raschen Durchgang von den Partnern provisorisch absegnen lassen. Relevanz, Effektivität, Effizienz, Impact und Nachhaltigkeit, das waren die üblichen fachlichen und strategischen Leitkriterien, an denen sich alle zu orientieren haben würden. Kapazitätsbildung, Förderung von „Human Resources“ und „Employment“, Organisationsentwicklung, Gender- und Umweltverträglichkeit waren die Themen, die im Fokus standen. Die Geber wollten es so und setzten dies, wie er aus Erfahrung wusste, auch meistens routiniert bei den bilateralen Regierungsverhandlungen und in späteren, offiziösen Verhandlungsrunden durch. Die hieraus deduzierten Terms of Reference waren dann quasi „Gesetz“ für ihn als Gutachter.

Thorsten, dessen Nase plötzlich nicht mehr aufhörte zu laufen und zu jucken, spürte eine leichte innere Unruhe. Die Luft in den Lounges setzte ihm immer wieder nach einer Weile etwas zu, weiß der Teufel warum! Er sah erneut auf die Uhr, vom Kollegen immer noch keine Spur, jetzt war es doch allmählich Zeit aufzubrechen. Der Flieger wartete in der Regel nicht allzu lange, wenn einzelne Business Class-Passagiere nach den Ausrufen nicht nach einer Weile am Gate auftauchten.

Die späte Ankunft seines Kollegen, der übrigens, formal gesehen, im Team nicht die erste Geige spielte, denn der neutrale Grillmeier war der ausgewiesene Teamleiter, der ihm de facto aber als unmittelbarer Vertreter der „Auftragsfirma“ natürlich trotzdem übergeordnet war, hatte er erwartet. Aber er würde gewiss gleich erscheinen. Immer wieder war die Hierachie in den Teams eine merkwürdige Konstruktion, die sich vor allem dadurch erklärte, dass der anzufertigende Bericht mit den Empfehlungen zum weiteren Vorgehen aus Gründen der Neutralität der Evaluierung, schließlich handelte es sich letztlich um Steuergelder, natürlich vom externen Gutachter verfasst und auch namentlich vertreten werden sollte. Wenngleich der Wiedergabe der gutachterlichen Erkenntnisse bis in die kniffligen Details hinein deutliche Grenzen gesetzt waren, was natürlich niemals jemand aus den Reihen der Auftraggeber zugeben würde. Das Geschäft war eben „enbedded“ angelegt, jedenfalls gestaltete es sich in den letzten Jahren zunehmend so.

Grillmeier musste pissen. Das Bier. Auf dem Weg zur Toilette direkt drüben beim Sauna-Bereich sah er, dass Kurt Klonk, der Teamkollege, nun eingetroffen war. Er stand noch am Empfang und gestikulierte mit dem rot uniformierten Personal hinter der Theke. Sie hatten sich sogleich erkannt, als er hersah, und nickten sich auf die Distanz zu, Grillmeier bedeutete ihm mit einem Fingerzeig, wo er Platz genommen hatte. Klonk verstand.

Fünf Jahre hatten sich die beiden fast Gleichaltrigen nicht mehr gesehen. Rein äußerlich erschien Klonk ihm von weitem unverändert, ein schlanker, hoch gewachsener Typ, dieselbe Figur-Statur wie vormals, während er selbst ja ziemlich Bauch angesetzt hatte. Er schaute nachdenklich an sich herab, während er auf den bläulichen WC-Stein im edlen Pissoir zielte, seinen Zebedäus vermochte er dabei nicht zu erspähen. Das war früher anders gewesen.

Bei dem kurzen fünftägigen Einsatz vor Jahren im Rebellengebiet der Volksrepublik Kongo zu Ruanda hin hatte es im Team ein paar Spannungen zwischen ihnen gegeben, die nur mühsam ausgebügelt werden konnten. Klonk wollte auch abends nach den teilweise zermürbenden Irrfahrten mit einer gepanzerten, kleinen Limousine über Land und der Absolvierung der vielen offiziellen Meetings immer noch weitermachen, Protokolle abstimmen, an der Wirkungsmatrix feilen. Er selbst, Grillmeier, war aber meist zu erschöpft gewesen und hatte auch kein wirkliches Bedürfnis, nach Dienst weiter nur über Fachqualifizierungen für lokales Personal der Kakao-Branche, so wichtig dies auch sein mochte, nachzudenken, zumal der Kollege bei solchen Diskursen anstrengend, weil allzu schnell aufbrausend war. Er, Grillmeier, sah es gelassener. Zweimal hatte er diese Abendwuselei nach Dienst mitgemacht, sie hatten sich in der geräumigen Suite des extrem abgesicherten feinen Hotels getroffen, die Klonk bekommen hatte. An den übrigen Abenden hatte er sich zum Unmut des Kollegen mit versucht cleveren Ausreden aus der Affäre gezogen.

Einmal hatte er dort in der Hotelsuite auf dem Bett neben dem Jackett und der gelben Krawatte, die noch nicht in den Schrank geräumt waren, die geöffnete, kleine Kofferbox des Kollegen gesehen und war aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen: Das Innere der Box war wie eine Puppenstube arrangiert oder wie jene Aktenkoffer, in denen manchmal eine Märklin-Eisenbahn im Kleinformat herumgetragen wird. Eine Box, in der schon von der Anlage her in außerordentlich geordneter Weise alles seinen Platz zu haben hatte. Solch ein Kofferinneres hatte er noch nie in seinem Leben gesehen: Ein Hänge-Set mit diversen, edlen Kugelschreibern; mehrere, teils durchsichtige Einschubvorrichtungen, wo die Visitenkarten und papiernen Fachdokumente sowie das Bild einer Frau, gewiss die des Kollegen, übersichtlich Platz gefunden hatten; ein grüner, dreiteiliger Mini-Safe für Geld, Pass und Ticket; eine Ablage für das Smartphone, eine für das Ladekabel und eine weitere für den Universalreisestecker; eine Aufhängung für das Necessaire an der Innenseite der Kofferabdeckung und direkt daneben ein Minischränkchen aus Hartglas für den Elektrorasierer. Und das war bei weitem nicht alles! Wie ein Spielzeug der besonderen Art sah dieser Koffer aus, geschaffen für Menschen mit stark ausgebildetem Ordnungsdrang.

Grillmeier erinnerte sich, während er sich nach der Verrichtung vor dem Pissoir am Waschbecken die Hände wusch und föhnte, dass er sich damals in Goma die Frage verkniffen hatte, ob sich der Kollege dieses kleine Wunderwerk habe maßanfertigen lassen und was dies wohl gekostet haben mochte. Das Irrste war jedoch, dass eine jegliche Vorrichtung, ein jedes der Fächer und Einschübe auch noch eine kleine Beschriftung in klaren Lettern aus vergoldetem Metall aufwies. Nur ein einziges, seitlich angebrachtes Fach war nicht beschriftet, er hatte keine Ahnung, warum.

Und ihm kam wieder in den Sinn, während er das Bad der Lounge verließ, dass ihm dies alles damals – er neigte mitunter zum Psychologisieren – erschienen war, wie wenn der Kollege in seiner frühen Kindheit, in der Analphase, von Mamma oder Papa oder dem Kindermädchen zu früh aufs Töpfchen gesetzt worden wäre, wo man ihn hieß, zu drücken, ganz feste zu drücken und ihm dann immer das kleine schöne Produkt, auf das er so stolz war, viel zu schnell und mit starrer Miene weggerissen wurde, ohne ihm auch nur das geringste Lob auszusprechen.

Auch jetzt kam bei diesem Gedanken wieder fast etwas Mitleid in ihm auf, als er auf Klonk in seiner Sitzecke zusteuerte, der gerade einen Schluck grünen Tee trank, sich rasch noch ein paar Wasabi-Nüsse griff, dann erhob und ihn unerwartet erheitert angrinste: „Na, Herr Kollege, hallo und guten Tag, Thorsten (man hatte sich bereits im Kongo geduzt), braucht das Gemächte noch etwas Belüftung, bevor es für zwölf Stunden in den Flieger geht?“ Tja, wenn Grillmeier ins Psychologisieren geriet, konnte so Einiges schiefgehen. Er feixte etwas gekünstelt zurück und schloss betont gelassen den offenen Hosenladen. Dann umarmten sie sich, wie man sich eben umarmt, wenn man sich nur wenig kennt und zugleich zeigen möchte, dass man sich freue, nun zehn Tage lang zu kooperieren, auch wenn man sich darüber nicht eigentlich freute. Es war nun wirklich Zeit, zum Gate 17 zu gehen, sonst würden sie den Flug verpassen.

Grillmeier und Klonk zeigten am Gate ihre Bordkarten vor, wurden zusammen mit den Eltern mit Kindern „first“ durchgewunken und gingen dann über die linke Gangway auf den vorderen Teil des Fliegers zu, wo am Eingang schon das Bordpersonal der Business Class auf die ersten Ankömmlinge wartete und gekonnt lächelte: „Good evening! Welcome! Hello!“ Die beiden Gutachter, die nicht beisammensaßen, weil der Flug fast schon ausgebucht war, als sie reserviert hatten, strebten ihren Sitzen zu und begannen, sich dort zu installieren. Klonks Platz war etwas weiter vorne auf der Gegenseite. Man nahm ihnen die Jacken ab und wenige Minuten später erschien die Stewardess mit dem Tablett, auf dem die Empfangsgetränke postiert waren: Sekt, Selters, O-Saft, Tomato Juice. Er nahm Schampus und machte es sich in seinem Sessel, wo er zum Vordersessel sehr viel Beinfreiheit hatte, bequem. Die Speisekarte steckte in einem Seitenfach. Er zog sie heraus und instruierte sich, was es zum späten Mittagessen geben würde:

Mozarella mit Tomaten und Pesto-Sauce. Türkische Linsensuppe mit Oliven-Tapenade-Bruschetta. Sis Kebab Lamb Skewer mit gegrillten Zucchini, Auberginen-Püree und Türkischem Reis. Zum Abschluss eine Desserteller-Kombination aus Chocolate Mousse, Sour Cherry Stroudel, Vanille Ice Cream mit marinierten Beeren. Wein, Likör, Cognac, Whiskey. Espresso.

Das las sich recht ordentlich, Grillmeier war´s zufrieden. Innerhalb von zehn Minuten, nachdem die Maschine vom Boden abgehoben hatte, war der Gutachter, eingemummelt in seine feine Borddecke, eingeschlafen, und wachte erst eine Stunde später auf, als der Aperitif und die Vorspeise gebracht wurden. Er griff hungrig zu. Vorne las Klonk in den Terms of Reference desAuftrags, ein Glas Tomatensaft schwenkend. Der Einsatz hatte begonnen.

***

In dem düsteren, dreistöckigen Haus am Hang mit den ewigen Nebelschwaden über dem Dach, in dem die Insassen nun schon so lange Zeit in stetiger Angst vor dem Riesenkerl mit der Knute vor sich hinvegetierten, immer in der Sorge, dass er ihnen, und sei es aus purer Langeweile, eines Tages doch etwas antun könnte, war Grillmeier wieder einmal verzweifelt auf der Flucht vor eben diesem Monsterwesen mit dem eiskalten Herzen. Der Fluchtweg ging wieder nach oben, der sektenhafte Despot folgte ihm eher gelassen, aber unentwegt, schon hatten sie beide fast wieder die Dachluke erreicht, er wusste nicht, warum er sich immer wieder in diese schier aussichtslose Position brachte, er kam doch nie schnell genug durch die Luke hindurch. Noch zwei Meter, dann würde er mit der Peitsche erreichbar sein, dann würde er sie unter Qualen, gar tödlich, zu spüren bekommen. Er würde gemartert und blutüberströmt daliegen, der stahlharte Schlangenkopf würde ihm das Genick brechen.

Der Schweiß der Panik brach ihm in Strömen aus, er zitterte heftig, so heftig, dass sich plötzlich eine überraschende Wende vollzog: alles oder nichts, zuckte es in ihm auf, alles oder nichts, Ende oder Anfang! Er machte im selben Moment, als der Mistkerl die oberste Treppenstufe erreichte, eine abrupte Drehbewegung zu ihm hin, entriss ihm die Gerte, die Knute, die verdammte Peitsche und trat ihm mit einem Anfall von nicht mehr zügelbarer Energie in die Gegend, wo er sein Gemächte vermutete. Perplex stand der Riese geschlagene drei Sekunden in der Luft, bevor er aufbrüllend hintenüber flog und, indem er sich im Reflex wie eine Kugel zusammenrollte, die Treppe noch schneller als absehbar hinabstürzte, nein regelrecht polternd abrollte, um am unteren Ende auf dem Boden mit einem gewaltigen Rumpeln aufzuschlagen, das man im ganzen Haus hören konnte. Noch war der Fürchterliche nicht gleich tot, aber den Rest erledigten nun ein paar der mutigsten Insassen, die von zwei Seiten herbeigeeilt waren. Sie warfen sich, ihre Chance begreifend, mit aller Macht und vereinten Kräften über ihn und würgten ihn, bis er keinen Mucks mehr tat und noch eine ganze Weile darüber hinaus. Der letzte scheußliche Despot war schlussendlich hinüber – in Richtung Hades.

Grillmeier und die Insassen lagen sich ungläubig staunend und noch etwas sinnensteif in den Armen, strichen sich über die Haare und beglückwünschten sich selig. Sogleich stiegen sie dann alle die Treppe hinauf, öffneten die Dachluke und kletterten einer nach dem anderen hinaus in die Freiheit, die dort begann, wo sie am oberen Teil des Hangs den Fuß aufsetzen konnten, dessen moosiger Boden fast zur Luke hin abschloss. Ein kleiner, harmloser Sprung genügte. Sie wanderten gemeinsam durch ein Wäldchen den Hang hinunter und blickten, unten angekommen, zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder in einen strahlenden Tag. Die gleißende Sonne blendete ihnen noch fast schmerzhaft die Augen.

Als sie allmählich mehr sahen, wurden sie gewahr, dass sich aus dem grellgelben Sonnenareal eine kleine, schmale Gestalt mit einem filzigen Spitzhut auf dem Kopf löste, welche gemessenen Schritts auf die Gruppe zukam, was eine Weile dauerte. Eine feine Würde strahlte sie aus. Zu allererst sah man die ungewöhnlich langen und dürren Finger, dann die filigrane Gestalt, dann den Kopf mit der Bedeckung. Zirze begrüßte die Befreiten gut gelaunt und spaßeshalber, jedoch ohne Hintergedanken, mit den Worten: „Perdautz, Ihr Schwielenschweine, Ihr Wirrwürmer, da seid Ihr ja! Wie wunderbar! Das ist doch klar!“ Sie lobte die Truppe über den grünen Klee ob ihrer mutigen Selbsthilfe und korrigierte die spöttische Begrüßung sogleich: „Nein, nein, lasst Euch besser als „Liebe Menschentiere“ anreden. Das trifft es besser.“ Aber alle hatten sie sehr gut den Humor verstanden und, das Spiel mitspielend, grunzten und wimmerten sie in einer spontanen Performance ein bisschen im Chor, wie in einer griechischen Komödie. Oder in einer Tragödie.

Zum Abschied, denn jeder machte sich alsbald in die Freiheit auf zu den Seinen, stimmten sie alle zusammen noch eine Strophe jener sanften Hymne an, die Mark Knopfler mit seinen Dire Straits oder auch mal mit Orchester so getragen und anrührend in Szene zu setzen vermochte, Brothers in Arms:

There’s so many different worlds
So many different suns
And we have just one world
But we live in different ones

Grillmeier winkte den Leuten, umarmte Zirze bewegt und schenkte ihr zum Andenken einen schönen, silbrigen Zweig, den er im Wäldchen beim Herunterlaufen von einem Baum abgespelzt hatte. Sie bedankte sich, wünschte den Freien alles Gute und klopfte ihm, den sie zum Schluss Thorsten nannte, leicht, man könnte sagen: zärtlich auf die Schulter. Sie blickte ihn tief und vielsagend an.

In diesem Moment erwachte er an Bord des Fliegers und sah in das besorgte Gesicht der Stewardess, die schon mehrmals versucht hatte, ihn mittels leichten Berührens zu wecken. „Sie haben gerade noch im Schlaf ein Weilchen gesungen, Thorsten, sorry, Herr Grillmeier, sehr schön war das anzuhören, ich glaube, ich kenne den Song. Aber wir mussten Sie ja wecken, verzeihen Sie, wir hätten Ihnen gerne weiter zugehört.“

Sie hieß ihn seine Sächelchen zu verstauen, seine Sitzlehne aufzurichten und sich anzuschnallen. In wenigen Minuten würden sie am Zielairport zur Landung ansetzen. Keine Verspätung, eine planmäßige Ankunft! Wieder zu Hause, die zehn Tage des Einsatzes waren um. Das Frühstück hatte Thorsten allerdings träumend und singend verpasst, aber das war ihm egal. Frühstücken war ja nicht unbedingt sein Ding. Gerne hätte er so früh am Tag eine erste Partagas oder eine kleine Montecristo geraucht, aber an Bord, anders als in früheren Zeiten, ging dies natürlich nicht mehr! Er blickte kurz hinüber zu seinem Kollegen zwei Sitzreihen weiter vorne auf der Gegenseite. Alles in Ordnung, signalisierte ihm dieser mit einem kurzen Wink und dabei schmunzelnd. Auch der hatte sichtlich gut geschlafen in seinem Sesselbett.

Es war noch etwas Zeit, bis die Maschine auf dem Rollfeld aufsetzen und ausrollen würde. Gutachter Grillmeier ließ die Ereignisse der letzten Tage noch einmal vor seinem inneren Auge vorbeiziehen, während er ein zwei Mint-Drops lutschte. Der Einsatz war ein Erfolg, das konnte man so sehen, wenn man wollte. Jedenfalls was die Durchführung betraf. Fast alle geplanten Termine konnten eingehalten werden, auch die in den Provinzen. Lediglich der Termin beim Vize-Minister des Landes war geplatzt, der Mann war just zurückgetreten, wie es sich bereits abgezeichnet hatte. Es war gemunkelt worden, er hätte internationale Projektgelder für seinen Bruder mobilisiert, der bei der lokalen Wirtschaftskammer der Chef war. Klare Zweckentfremdung also. Immerhin hatte das Team aber mit einem der wichtigsten Berater des Vize-Ministers über das Projekt sprechen können. Beim Kick-Off hatte sich der WZ-Referent, also der für wirtschaftliche Zusammenarbeit, etwas arg aufgebläht, war dann im weiteren Verlauf des Aufenthalts aber nicht mehr aufgetaucht, auch nicht beim Debriefing und dem Abschluss-Workshop. In den letzten Jahren hatte er es schon öfters erlebt, dass sich die diplomatischen Vertretungen stärker einmischten als früher und die Dinge zu steuern versuchten.

Mit Klonk war er einigermaßen zurechtgekommen, lediglich einmal war der aufgebraust, als Grillmeier die gewünschte Abendsession, wo die Dokumente nochmal durchgesprochen werden sollten, verweigerte. Sie waren an diesem Tag spät von der langen und anstrengenden Tour in einer Provinz im Norden des Landes zurückgekehrt. Grillmeier mochte nicht mehr, Klonk war genervt, fuhr kurz aus der Haut, gab dann aber doch klein bei.

Die Ergebnis-Präsentation war in der Runde der Teilnehmer mit großem Beifall aufgenommen worden. Routiniert hatte das Team zunächst einmal die gemeinsamen Anstrengungen und die Errungenschaften der Vorphase des Projekts ausdrücklich gelobt. Nun sollte also ein stärkerer Fokus auf die Partizipation der lokalen Betriebe gelegt werden, dies möglichst auch mittels eines nicht ganz unerheblichen finanziellen Fortbildungsbeitrags. In ausgewählten Standorten sollten so genannte Berufsberatungsstellen eingerichtet werden und man strebte eine erhöhte Quote von fünfzig Prozent bei der Ausbildungsbeteiligung junger Frauen und Mädchen an. Die Wirkungs-indikatoren waren entsprechend angepasst worden. Bildungsministerium und involvierte Wirtschaftsgremien sollten intensiver zusammenarbeiten und einen ersten normativen Rahmen für ein Berufsbildungsgesetz auflegen, das diesen Namen verdiente. Ganz nach deutschem Vorbild. „Nachhaltigkeit“ würde der alles umfassende Schlüsselbegriff auch für das weitere Vorgehen in der neue Projektphase sein.

Auch wenn sie zweimal durch eine wirklich eindrucksvolle Natur- und Berglandschaft gefahren waren, hatten die Gutachter keine Jurte aus der Nähe oder gar deren großfamiliäres Innenleben zu sehen bekommen, sondern lediglich ein buntes Modell, das am Eingang des hauptstädtischen Museums, in das man sie im Laufe der Woche geführt hatte, mit typischen Insignien drapiert in Szene gesetzt war. Der Einsatz war mit einem abschließenden Empfang mit feinem Dinner in einem Luxushotel der Hauptstadt, gekrönt worden. Die Gutachter lernten dabei kennen, wie man richtig aus den Vollen Kaviar futtert und Wodka schluckt. Die trübe und bedrückende Lage im Land, zumindest was Oppositionelle, Dissidenten oder Demokratie-Aktivisten betraf, zog wie ein ferner, grauer Nebelschwaden an ihm vorbei, als er seiner Sinne allmählich kaum noch mächtig war. Was hätte er auch tun sollen, fragte er sich feucht-fröhlich bis missmutig und sich vor sich selbst entschuldigend. Sein Auftrag war Bildungsförderung, basta! Und GAS war dabei sowieso kein Thema, dachte er.

Der Flieger, ein Airbus, setzte nun mit einem spürbaren Rumpeln auf der Landebahn des Frankfurter Airports auf, aber das Bordpublikum klatschte trotzdem kräftig. Auch Grillmeier war froh, wieder zurück zu sein. Er nahm noch einmal Blickkontakt zu Klonk auf, der ihm bereits beim Einsteigen signalisiert hatte, dass er nach der Landung gleich würde weiterziehen müssen. Er habe noch einen knapp bemessenen Anschlussflug im Inland. So war es dann auch, denn Klonk stürzte regelrecht davon, als die Bordtüren langsam aufgingen – nicht ohne ihm noch zuzurufen: „Mach´s gut, Thorsten, es war ein prima Einsatz. Nichts für ungut! Danke! Wir hören noch voneinander.“ Was auch immer er damit gemeint haben mochte: eine Aussprache vielleicht über sein Verhalten, das diesmal allerdings wenig problematisch gewesen war; das, wie zu erwarten stand, langwierige Feintuning seines noch zu schreibenden Berichts zum Einsatz oder vielleicht gar ein neuer Auftrag.

Grillmeier war nach der Landung mit dem Shuttle-Bus gut zu Hause angekommen, hatte sich ein bis zwei Tage lang wieder „eingelebt“, ein paar alltägliche Kleinigkeiten erledigt und war dann tagelang mit dem Entwurf seines Berichts befasst: Fünfzig Seiten hochgestochene Fachtexterei, was er längst wie aus dem Eff Eff beherrschte, jedenfalls war er selbst hiervon überzeugt. Zehn Tage nach seiner Rückkehr stand er gerade in seiner kleinen Küche, um etwas Essbares zuzubereiten. Zugleich beobachtete er wieder mal amüsiert den jungen Nerd auf dem Balkon des Nachbarhauses, der dort, bewehrt mit riesigen Schellen auf den Ohren, immer wieder wirres Zeug in ein Mini-Mikrophon plärrte. Der Mann war ihm ein Rätsel. Während er sein in der Pfanne schmorendes Pilz-Kräuter-Omelette überprüfte, wimmerte plötzlich sein Smartphone. Er kannte die angezeigte Nummer, die auf dem Display angezeigt wurde, es war Klonk. Grillmeier zögerte, der Kollege sprach auf den Anrufbeantworter: „Hallo, Thorsten, geh mal dran, bist wohl nicht da. Pass auf, es geht um eine neue Machbarkeitsstudie, diesmal geht’s nach Nordwestafrika, zu den Franzmännern, den Wülewühs, haha hoho, kleiner Scherz! Also, wie sieht es aus, bist Du disponibel? Ich hoffe doch sehr. Wir wollen Dich als Teamleiter haben, wir brauchen Dich. Wird ein spannender Auftrag werden. Wir sollten aber mal über unsere Unstimmigkeiten damals im Kongo und auch beim letzten Einsatz sprechen, viel war da ja nicht, alles gut, aber ein bisschen was könnten wir ja mal ändern. Ruf mich zurück. Okay? Ciao.“

Grillmeier, in dessen Bauch und Seele es ja schon seit längerem heftiger als früher grummelte und rumorte, war nicht drangegangen und rief auch nicht zurück. Sie hatten seinen Bericht am Ende natürlich angenommen, aber es war – wie öfters in letzter Zeit – nicht mehr sein Bericht, es war der Bericht des Teams, für das er allein seinen Namen herzugeben hatte. Jedenfalls empfand er es so. Wieder mal hatten sie seinen Entwurf sehr gelobt, waren ihm dann aber, er kannte das inzwischen nur zu gut, zu fünft mit sage und schreibe hundertsiebzig Kommentaren und Anpassungswünschen auf die Pelle gerückt. Wir respektieren Ihre inhaltlichen Interpretationen natürlich, Herr Grillmeier, wir brauchen sie nur etwas verständlicher, etwas kristalliner, meinten die von der „Firma“ und sie meinten damit auch, dass er sich bei der textlichen Anpassung gefälligst fügen sollte. Zu diesem Behufe pflegten sie neuerdings erst mal eine Praktikantin oder eine Assistentin vorzuschicken, die sich, zumeist von lauerndem Ehrgeiz getrieben, an dem Text abarbeitete. Dann setzten die höheren Chargen ihre Kommentare hinzu. So war das eben, aber es war ihm wieder heftig auf den Magen geschlagen. Sie wollen, dass ich ihre Gedanken klone, dachte er, während er den inzwischen gut gebräunten Eierpfannkuchen wendete. So ist das System angelegt. Nein, er würde nicht drangehen und er würde auch nicht mehr zurückrufen, versicherte er sich seiner selbst und schob den ersten, noch etwas heißen Bissen mit der Gabel in den Mund! Sie wollen mich als Schreiberling und ich soll nicht mucken, ich hab´ keinen Bock mehr auf sowas, fluchte er dann und verschluckte sich dabei fast. Er würde, und so machte er es dann auch, Klonk bzw. der „Firma“ eine Mail schreiben und absagen. Er würde sich als nicht disponibel ausgeben, er würde mitteilen, dass er für die nächsten Monate ausgebucht wäre. Er war sich sicher, seine Hauptauftraggeber von der „Firma“ würden ihn dann in Ruhe lassen! Zumindest die, es würde sich herumsprechen. Man ist ja schnell draußen, wenn man sich nicht aufbläht, dachte er. Aber wollte er tatsächlich „in Ruhe“ gelassen werden? Grillmeier war sich sicher, „ja, verdammt nochmal, ja“! „Und die Kohle, ich lebe ja dann von meinen Ersparnissen, denn ein Buchverkauf bringt heute nur noch wenigen Könnern wirklich was ein, stieg es fragend in ihm hoch. Er könnte noch ein paar Jährchen drauflegen, die Rente später wird auch nicht gerade hoch sein, sinnierte er weiter vor sich hin, während er den leeren Teller in die Spüle gab und ein Tellerchen mit dem Nachtisch aus dem Kühlschrank nahm.

Schon seit einiger Zeit war bei Grillmeier der Plan gereift, aus der Entwicklungszusammenarbeit, aus dem Entwicklungsgeschäft auszusteigen. Genug war genug, fünfundsiebzig Kurzzeiteinsätze und ein zweijähriger Langzeitaufenthalt! Der gerade absolvierte eurasische Einsatz sollte mit seinem unterm Strich guten Verlauf sein letzter gewesen sein. Ja, gewiss, er, der Gutachter, hatte sich entwickelt. Da war was dran. Es war was dran an der These, dass der Einsatz in diesem Metier vor allem den „Heilsbringern“ nützt. Mir jedenfalls hat es ordentlich genützt, dachte er und verließ die Küche. Er sollte und wollte sich künftig dem Verfassen ganz anderer Texte als Sachberichten widmen. Seit ein paar Monaten war, soweit es seine Zeit zugelassen hatte, ein geplantes, belletristisches Büchlein von ihm in der Pipeline, eine Sammlung pfiffiger, heiterer und besinnlicher Anekdoten. Die Vervollständigung der Sammlung und Lektorierung des gesamten Textes fehlte noch. Von dem kleinen Verlag, dem bereits erste Entwürfe vorlagen, von den Leuten, die sich dort um seine Short Stories kümmerten und in sachter Manier kluge Anregungen gaben, hatte er einen sehr guten Eindruck. Das war etwas ganz Anderes, diese Art der textlichen Kooperation auf Augenhöhe, freute er sich!

 Und er plante bereits ein weiteres Buch, eine Novelle. Der Zustand Europas trieb ihn, den politisch höchst Aufmerksamen, schon seit längerem um, am Beispiel von „Europinas Leid“ wollte er vor dem Untergang in einer „Welt aus den Fugen“ warnen, kämpfte jedoch damit, nicht zu defätistisch zu erscheinen.  Und ja, irgendwann würde er gewiss auch über seine langjährigen Erfahrungen als Entwicklungsberater und Gutachter schreiben, die jetzt ausliefen. All die Erlebnisse und Begegnungen, klar, auch die Routinen. Hierfür war es noch Zeit. Ich brauche erst einmal Abstand, dachte Grillmeier. Er war nun fest entschlossen, sich ganz der belletristischen Schriftstellerei zu widmen. Jedenfalls fühlte er sich so, während er eine schlanke „Don Julián“ anzündete, die er vor Monaten aus den Kanaren mitgebracht und in seinem kleinen Humidor aufbewahrt hatte.

Plötzlich musste er kichern. Sein Verleger hatte ihn neulich am Telefon bei der Besprechung über den passenden Buchtitel „Jungautor“ genannt. Das war auf jeden Fall ein gutes Omen, dachte er belustigt. Nicht nur einer meiner vielen Träume. Es würde tatsächlich so kommen. Es würde auch kein schmerzlicher Albtraum werden, war er sich gewiss. Und er erinnerte sich gut gelaunt daran, dass ein zu autoritärem Sarkasmus neigender Abteilungsleiter der „Firma“ vor einigen Jahren einmal, als es um ein Briefing für einen neuen Auftrag gegangen war, gesagt haben soll, was ihm später kolportiert wurde: „Was, schon wieder dieser Alt-Marxist. Schon wieder der?!“ Es war einer jener fast etwas fossil wirkenden Kollegen der Firma gewesen, der bekannt dafür war, Auftrags-Kandidaten, die ihm bei seinen Feststellungen und verbalen Setzungen nicht gleich folgten oder auch nur die Stirn runzelten, mit dem Schmäh, ein „Marxist“ oder gar „Bolschewist“ zu sein, belegte. Dabei hatte Grillmeier sich schon zuzeiten seines Studiums und spätestens seit der Lektüre von Sartre und Camus niemals in Dogmatismus verstiegen, neigte aber durchaus dazu, in der Sache das jeweilige Übel an der Wurzel zu packen, wofür es das schöne Wörtchen „radikal“ gibt. Aber solche „philosophischen Differenzierungen“ kümmerten diesen Chef aus der Firma nicht, was, zum Teufel, interessierte den sowas, die Projekt-evaluierung musste organisiert werden! Es galt für diesen rüde wirkenden Oberpragmatiker gerne die Devise: „Was fluppt, das zählt, basta!“ Und er setzte bei solchen Gelegenheiten der kurzen Begegnung im Büro oder am Telefon, gerne rote Linien ziehend, schon mal hinzu: „Ich kann auch anders, Herr Gutachter!“ Was auch immer das bedeuten mochte.

Im Nachhinein amüsiert erinnerte sich Grillmeier an diese Begegnungen, die nun schon ein paar Jahre zurücklagen, während seine Zigarre im letzten Drittel glimmte, wo sie etwas bitter zu schmecken begann. Dieser Chefauftraggeber befand sich längst in Rente. Vom „Alt-Marxisten“ zum „Jung-Autoren“, perdautz, das ist doch nun eigentlich eine sehr rekreative und wohltuende Karriereaussicht im letzten Drittel meines Lebens, dachte Grillmeier und kehrte wieder in seine Küche zurück.

Von dem Tellerchen mit der ruhenden Nachspeise, einer römischen Pistazien-Rum- Ricotta-Creme, ging inzwischen ein einladender Duft aus. Grillmeier setzte sich und verzehrte sie langsam und mit Genuss. Dazu stellte er sich ein paar Songs von Leonard Cohen im Streaming ein und lauschte den intensiven Liedtexten mit Aufmerksamkeit, bis er, von was auch immer, vielleicht von den prasselnden Gedanken, erschöpft am Tisch einnickte, wobei er den Kopf mehr und mehr auf die auf der Tischplatte ruhenden Arme absenkte. Eines seiner aktuellen Lieblingslieder, nämlich „Anthem“, erklang – intoniert von den hellen Chorstimmen der kuriosen Webb-Sisters im Verein mit dem getragenen Bassgesang des in die Jahre gekommenen Liedpoeten:

Ring the bells, that still can ring

Forget the perfect offering,

There´s a crack, a crack in everything

That´s how the light gets in.

Ein ausgedehntes Tischnickerchen hatte Grillmeier an jenem Morgen umfangen, als er gerade gedanklich sein Absageschreiben an die Firma abspulte, wobei sich mehrmals Flashbacks zwischenschalteten, bei denen altbekannte Gesichter wie durch Milchglas zu ihm hingrinsten.

Grillmeier befand sich, während sich sein leichtes Röcheln in der Küche ausbreitete, das niemand hörte, erneut im Traum-Modus. Darin betrat er nach einem kurzen Gang durch den leichten Abendregen das dreistöckige Haus der öffentlichen Bücherei seiner Stadt, wo seine erste Lesung, die Lesung des gealterten „Jungautoren“, stattfinden sollte. Sein Büchlein lag seit ein paar Tagen als Neuerscheinung in den Läden. Er stieg die Treppen des Hauses hinauf, um sich im Dachkammer-Atelier einzufinden, denn dort sollte seine Lesung über die Bühne gehen. Er war schon etwas spät dran, seine Zuhörerschaft wartete bereits. Auf den Stufen, die er nach oben eilte, begegnete ihm ein ungewöhnlich grimmig aussehender, hoch gewachsener Mann, der an ihm vorbei rasch nach unten strebte. Thorsten erschrak für einen Moment. Seitlich an dem schwarzen Reisekoffer, den der Mann bei sich trug, ragte an der Befestigung für den Schirm ein längliches Etwas hervor, das silbrig glänzte, ein Stock, eine Peitsche vielleicht. Grillmeier erschrak, während sich die beiden Männer eine Sekunde lang wie versteinert in die Augen sahen. Dann stieg er weiter nach oben, während der Andere nach unten davonzog.

Der schön ausgestattete Lesesaal war mit siebzig Leuten voll besetzt. Er trat ans vorbereitete Lesepult. Begrüßungsbeifall kam auf, er nahm einen Schluck Wasser aus dem bereit gestellten Glas und blickte dankend und grüßend in die Runde. Kurz schweiften seine Augen besorgt zur Tür hin. Er zog behutsam sein Büchlein aus der Jacke und breitete es vor sich aus. Dann begann er mit dem Vortrag einer Auswahl seiner Anekdoten und schloss nach einer Stunde mit der letzten, fast aphoristischen Short Story der Serie:

„In die Jahre gekommen

Ich stehe im Badezimmer vor dem Spiegel und betrachte mich aufmerksam zu Beginn des Wasch- und Rasiervorgangs. Der Spiegel ist klar und brauchbar. Mein Gesicht strahlt gebremstes Altern, wenngleich nicht ein Jünger Werden, aus. Wie denn auch? Ein paar Gesichtslinien, die sich mir im Laufe der letzten Jahre markant eingezeichnet haben, deute ich genügsam als Beleg für den Zuwachs an Denkfähigkeit und Weisheit, ja mitunter gar Glück. Glück kann anstrengend sein, heißt es. Zufrieden drehe ich den Wasserhahn auf. Das sofort einsetzende Rauschen bewirkt jedoch wieder mal einen Effekt, den ich nun schon aus täglicher Verrichtung kenne. Ich drehe den Hahn rasch ab und laufe in Richtung Toilette. Der Gang zum stillen Örtchen, das auf der anderen Seite meiner großen Wohnung liegt, wird zur Belastungsprobe. Der Spiegel, der im Bad geblieben ist, würde mir die Wirkung in meinem Gesicht sichtbar machen, denke ich. Vor allem daran, dass bestimmte Wege in der Wohnung immer länger werden, merke ich, dass ich in die Jahre gekommen bin. Ja, ich bin in die Jahre gekommen!“

Das Publikum hatte aufmerksam zugehört. Am Ende war die Stimmung in der Dachkammer eher besinnlich denn heiter. Einige aus der Zuhörerschaft, die jetzt den „Kammersaal“ verließen, kamen noch auf ihn zu, drückten ihm die Hand, machten eine lobende Bemerkung oder auch mal kritische Einlassung und fragten auch nach seinem Buch. Er hatte ein paar Exemplare dabei, die er signierte und dann ausgab. Die Lesung war ein Erfolg. Das konnte man so sehen, wenn man wollte. Grillmeier leerte sein Glas, nahm seine Büchertasche auf und machte sich auf den Weg nach Hause.

Als er auf die Straße trat, entdeckte er, dass der Regen aufgehört hatte. Es war jetzt ein richtig milder Abend, der nach feuchtem Gebüsch und nasser Baumrinde duftete. Zeit eigentlich für einen Riesling, dachte Thorsten, am besten weiter vorne um die Ecke in der Szenekneipe, wo er schier unendlich lange nicht mehr gewesen war. Er steuerte sie gemächlich an, während er sich immer wieder mal umblickte und in die Dunkelheit spähte. Dann trat er in das fahle Fensterlicht der Kneipe, an deren Tür ein randvoll mit Wein gefülltes Dubbeglas prangte, dem auf Pfälzisch der Sinnspruch:

„De Sinn vum Soi is des Soi.“

in großen Lettern beigefügt war. Er öffnete die knarzende Tür und vernahm beim Eintreten in das dunstige Lokal jene Schmonzette der weinseligen Heiterkeit nach einer berühmten Weihnachtsmelodie von José Feliciano, die eine feuchtfröhliche Runde von älteren Herren mit geröteten Gesichtern gerade lauthals angestimmt hatte:

De Riesling werd knapp, de Riesling werd (net) knapp, ja, Riesling, und net zu knapp…

Man winkte Grillmeier weinselig zu, und während der an den großen runden Tisch herantrat, um sich zu setzen, reifte in ihm der Entschluss, sich sogleich ein Paar heiße Würstchen mit Senf, Brötchen und Gurke, gerne auch etwas Meerrettich, zum Wein dazu zu bestellen. Das Wasser lief ihm in Erwartung solch irdischen Genusses im Mund zusammen! Als plötzlich die Tür der Pinte infolge eines harten und lauten Stoßes von außen förmlich aufschnellte.

Aber… was war eigentlich mit Zirze, fragte er sich unwillkürlich, während er seinen schweren Kopf vom Küchentisch anhob, wo das leergenaschte Desserttellerchen noch stand, und bemüht versuchte, sich zu orientieren. Er vermisste sie. Ja, er vermisste sie sehr!

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