BLUNTSCHLISTRASSE – DER LEBENSABEND

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Während Paul am letzten Tag in seiner alten Wohnung mit Wehmut seinen Umzug vorbereitete, indem er Schränke, Kommoden und Regale entleerte und Kisten packte, reifte in ihm der Entschluss, sich zur Wehr zu setzen und zu kämpfen. Sie, die Sozialen, betrachteten sein Anliegen als ein kühl abgewickeltes Projekt hinein in kontrollierte Armut für den Rest seines Lebens, dem wollte er nun bei allem Respekt dafür, dass sie ihm eine geförderte Wohnung vermittelt hatten, ein Gegenprojekt entgegensetzen, das aus vielen kleinen Einzelmaßnahmen bestehen sollte, die sein Leben noch einmal umkrempeln würden. Sein Widerstandsgeist war wiedererwacht, war er doch von früher her gewohnt, nicht einfach alles hinzunehmen, damals in den rebellischen Zeiten sowieso und eigentlich auch danach. Er wollte es nicht einfach so mit gebückter Haltung und gesenktem Kopf ertragen müssen, wie sie ihn und die vielen anderen Betroffenen, die teilweise in einer noch kritischeren Lage waren als er, behandelten. Erst vor Tagen hatte er in der Lokalzeitung gelesen, dass sie in einem kleinen Ort in der Nähe von Heidelberg eine ehrbare Rentnerin für Monate in einen fensterlosen, kleinen Container gesteckt hatten. Sonst hätte ihr Obdachlosigkeit gedroht, so hatten sie diese befremdliche Maßnahme begründet. Zu viel Demut war also nicht angebracht. „Für das Amt zählt es nicht, dass ich Familienvater bin, über vier bis fünf Dezennien Leistungsträger war, ein korrekter, fast überkorrekter Steuerzahler und ehrbarer, langjähriger Bürger Heidelbergs“, dachte er irritiert. Für die Regelbediener der Sozialmaschinerie zählte das alles nicht!

Es ist schon seltsam, konstatierte Paul konsterniert. Ganz oben, in den vermögenden Spitzen der Gesellschaft geht es ausgesprochen ungerecht zu, aber ganz unten am Ende der Fahnenstange herrscht eine geradezu orthodox-kommunistische Gleichbehandlung vor. Während im Bereich der Geldelite die einen „nur“ ein paar hunderttausend Euro pro Jahr verdienen, die anderen aber Millionen scheffeln, gilt für alle Empfänger sozialer Grundförderung eisern der gleiche Regelsatz von vierhundertvierundzwanzig Euro. Und basta! Von wegen Einzelfallbewertung!

Paul würde kämpfen, wenngleich er wusste, dass er kaum gewinnen konnte, aber er hatte auch kaum etwas zu verlieren. Er würde für sich selbst und die anderen „Bittsteller“ Einsatz zeigen, sonst könnte er nicht mehr in den Spiegel schauen. Während er vom Wohnzimmer in die Küche marschierte, um sich eine Eierspeise und etwas Salat zuzubereiten, deklamierte er kraftvoll das treffende Diktum des Dichters Brecht: „Wenn die Kämpfer gegen das Unrecht besiegt sind, hat das Unrecht doch nicht recht!“ Paul Schmeil hatte wieder gute Laune bekommen, die lapidare, dialektische Losung gefiel ihm.

Während er nun am Küchentisch seine Omelette verzehrte, machte er sich im Hinblick auf sein Gegenprojekt einen ersten Plan, indem er ein paar zündende Ideen auf einen Zettel schrieb, sozusagen ein Erstentwurf:

Erstens: Von jetzt an fahre ich, Paul Senior, erstmals und bis auf Weiteres schwarz mit der Straßenbahn. Mein Einkommen reicht nicht für die teuren Tickets. Zweitens: Künftig werde ich die Grauzonen des Steuerrechts mehr als konsequent für mich nutzen, sofern ich jemals noch in die Lage kommen sollte, eine Steuererklärung abgeben zu müssen. Drittens: Ich werde beim Landtag des Ländles eine gut begründete Petition einreichen, mit dem Tenor: „Die Würde des Menschen ist…“. Die Sozialen des Amts würden viel Arbeit bekommen, mochte es ein zwei empathische Sachbearbeiter/innen dort auch ungerechterweise treffen. Egal, dann sollen sie halt die Zusatzarbeit fair teilen. Viertens: Ich gehe morgen gleich noch in den Baumarkt und kaufe mir eine gelbe Warnweste. Die kann ich auch für die Einzugsarbeiten in der Bluntschli-Straße gut brauchen und eben für später… auf der Straße. Fünftens: Ich gehe gleich am nächsten Freitag auf die Friday for Future-Demonstration. Zwar geht es dort um Umwelt, aber Soziales und Umwelt sind nicht so weit voneinander entfernt, wie man gemeinhin denkt. Sechstens: Ich werde andere Almosenempfänger in ähnlicher Lage ansprechen und mit ihnen einen Zirkel bilden, um uns über unsere Rechte und mögliche Aktionen auszutauschen. Siebtens: Analog zu den Gelbwesten in Frankreich for-miert sich auch hierzulande allmählich massiver Protest, nicht nur, was das Klima angeht. Es kann noch ein Weilchen dauern, aber ich werde dabei sein und mich einbringen. Schmeils Lebensabend.

Paul war mit dem Verzehr seines Essens fertig und mit seinem Konzept der Würde zufrieden. Nun fehlte noch die Zigarre. Er ging zu einem Regal mit Büchern, die noch nicht in den Kisten verstaut waren, griff sich das Buch „Die Alternative“ von Rudolf Bahro und nestelte zwischen zwei mittleren Seiten den 200 Euro-Schein heraus, den er dort seit Wochen versteckt hielt. Dann zog er seine Jacke an und verließ die Wohnung, um im nahen Tabak- und Spirituosenladen zwei Cohiba für fünfzehn Euro pro Stück und einen Whisky der etwas besseren Sorte für siebzig Euro zu kaufen, einen schottischen Single Malt Ardberg Uigeadail. Das Projekt Bluntschli-Straße konnte nun „kommen“.

Zu Hause setzte sich Paul Schmeil nach getaner Verpackungsarbeit in seinen Ledersessel, in der linken Hand die Cohiba, in der rechten Hand den Whisky on the Rocks. Toskana-Fraktion, grinste er in sich hinein. Er nahm einen langen Zug und einen kräftigen Schluck und musste wieder schmunzeln. Diese Deutsch-Schweizer mit ihrer verrückten Sprache: Schmützli, Büzzeli, Bluntschli. Nein, den Bluntschli wollte er partout nicht herzen. Aber jetzt hatte eben auch Paul Schmeil seinen Bluntschli wie jener österreichisch-amerikanische Großmeister des schwarzen Humors Georg Kreisler, in dessen Bluntschli-Song, der freilich nichts mit dem Schweizer Staatsrechtler zu tun hat (oder vielleicht doch, wer weiß?), eine der Strophen so klingt:

Ja friher war das anders
Ka Mensch hat mich gekannt
Aber jetzt hab ich an Bluntschli
Drum bin ich interessant.

Schmeils vorletzter Tag in seiner alten Wohnung neigte sich dem Ende zu. Er war müde geworden, aber er würde wach bleiben, die Leute mobilisieren und nach einer Weile des Wohnens in besagter Bluntschli-Straße bei der Stadt den Antrag stellen, seine neue Wohnmeile in Wilhelm Weitling-Straße umzubenennen. Das war er sich schuldig. Und namentlich Weitling!

Hinweise des Autors

Diese exemplarische Sozialreportage habe ich als Kurzgeschichte zu Beginn der Initiative von Arbeitsminister H.Heil zur sog. Respektrente geschrieben. Das ist jetzt gut ein Jahr her. “RESPEKTRENTE“ wurde zum Wort des Jahres 2019.


Zu BLUNTSCHLI teilte mir Sandra Kreisler, die Tochter von Georg Kreisler, im April 2019 u.a. folgendes mit:

„Mein Vater verstand das Wort Bluntschli einfach als einen Gimmick, den sich jemand nimmt, um wichtiger zu scheinen, als er ist, genau wie es in dem Lied erzählt wird. Er erzählte mir mal, es sei ein jiddischer Ausdruck – es KANN natürlich sein, dass es von „Wichtigmacher“ abstammt. Aber das ist alles, was ich weiß. Das hat er mir so gesagt. Ich könnte mir auch gut vorstellen, dass mein Vater evtl. auch über die Bluntschli-Straße bei einer Tournee gestolpert ist, und der Name sich in ihm fest- und seine Fantasie freisetzte.“

[1] Kompletter Titel: „Die Kommunisten in der Schweiz nach den bei Weitling vorgefundenen Papieren“, Orell Füssli & Co., Zürich 1843

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