Diese Sozialen, die Leute vom Amt, hatten nun damit begonnen, ihn bis auf die nackte Haut auszuziehen, symbolisch gesprochen. Die Würde des Menschen im Armutsverwaltungsstaat ist ertastbar, symbolisch gesprochen. Der gläserne Bürger sitzt im Glashaus, Doppelglas-Szenario sozusagen, und soll gefälligst nicht mit Steinen werfen. Bittsteller, als welche viele der Versorgten im Land gerne die Antragsteller beschimpfen, sollten bittesehr dankbar sein. Jeder ist seines Glückes Schmied, aber wir helfen sogar Dir, Du armer, fauler Sack, Du Vorsorgeverweigerer! Das wussten schon Bismarck und Kaiser Wilhelm II., das sind auch die Losungen der Neoliberalen und NeoCons. Jetzt ist er, der Paul, den Sozialregulierern mit ihrer guten, preußischen Tradition ausgeliefert. Die Deutschen sind gründlich, vor allem die Beamten und Beamtinnen. Und sie lieben die perfekte Bürokratie, sie fieseln ausgesprochen gerne!
Die Sozialen wollten in der Tat alles von ihm wissen, alle Belege und Nachweise von ihm haben, selbst solche, die es gar nicht gab, bei deren Einforderung er das Bürokratendeutsch gar nicht erst verstand. Sie fragten ihn höflich aus, sie inspizierten freundlich seine Wohnung, sie schnüffelten beherzt, aber entseelt in seinen intimsten Sachen, lächelnd misstrauten sie ihm von vorneherein, sozusagen präventiv. Sie misstrauten ihm, dem Mitbürger, einfach, und jeder, dem Paul dies erzählte, fand solcherart Behandlung in Ordnung und verständlich. Es war einfach normal und notwendig, wo käme man denn da hin, bitteschön?!
Beim Amt verwies die Sachbearbeiterin entschuldigend darauf, dass sie Ärger mit der Leitung bekomme, wenn die Prüfung lückenhaft erfolge. Die Abteilungsleitung, soweit er mit ihr in Kontakt kam, wenn er sich mal beschwerte, verwies bedauernd darauf, dass man unter der Kautelarpraxis der Revision stehe, der nickligen Prüfer der kommunalen Fachkommissionen und Ausschüsse. Und die oberste Amtsleistung berief sich gerne auf die gültige Sozialgesetzgebung, deren Dekrete nun einmal anzuwenden seien. Der Bürgerbeauftragte im Rathaus wiederum, den er vor Wochen aufgesucht hatte, ein netter und empathischer Herr, legte ihm in einem kurzen Statement zurecht dar, dass das ganze Theater eben mit Hartz IV angefangen habe, damals vor anderthalb Dekaden, und munter so weitergehe, das werde sich so schnell kaum ändern. Da konnte Paul nur zustimmen. Peter Hartz, dieser ehemalige Personalvorstand von VW, den sie wegen Unterschlagung verurteilt hatten, ein Amigo der damaligen sozialdemokratischen Führungselite. Was der wohl gerade macht, fragte sich Paul nachdenklich.
Und es war schon so, die neuen Sozialpolitiker Deutschlands aller Couleur debattierten just über die Einführung einer aufgestockten Rente, einer Respektrente, wie sie ihr Gedankenspielchen nannten, ohne oder mit Bedürftigkeitsnachweis für die einskommafünf Millionen Armutsrentner, wobei die Art und Weise, wie sie dabei vorgingen, erahnen ließ, dass Paul eher zum Methusalem werden würde, als dass diese Politfunktionäre die Dinge einer gedeihlichen Entscheidung zuführen würden; als dass die Armutsrente von Respekt getragen würde. Sie debattierten über ein bisschen Abkehr von Hartz IV, es standen Wahlen an. Aber sie debattierten nur, denn es gibt doch, gottlob, zu guter Letzt immer noch den mahnenden Zeigefinger der Vertreter der verfassten deutschen Wirtschaft, die schnell auch die Hände zu Fäusten ballen können, wenn die Vertreter der Sozialen mehr als den Inflationsausgleich anmahnen.
Und der oberste Staatshaushaltsbewahrer? Keine Reserven im Budget, sorry. Und die immer noch beliebte Kanzlerin, deren Abdankung in wohl überlegten Schritten sich bereits mehr oder minder klar andeutete? Kein Kommentar zum Thema seitens der – aus seiner Sicht – „Krankenschwester der Bosse“! Und auch Paul versagte sich erst einmal einen gedanklichen Kommentar ethischer Provenienz, so sehr schien diese unermüdliche Frau mit ihrer Alternativlosigkeit bereits auch ihn eingeschläfert zu haben. Er stellte lediglich lapidar fest: Fünfunddreißig Jahre CDU-Kanzlerschaft haben eben ihren Preis, dass er dabei den Genossen der Bosse mit seiner siebenjährigen Kanzlerschaft bei-gemischt hatte, machte den Bock nur fetter.
Ja gut, gut und unschön, aber das Grundgesetz?! „Die Würde des Menschen ist…“ Die Verfassung ist selbstredend, dachte er. Und der liebe Gott im Himmel, so es ihn denn gibt? Hilft der, wenn man brav an ihn glaubt? Gott ist tot, beschieden ihm die fürsorglichen Nietzscheaner oder philosophischen Materialisten in der Pinte am anderen Ende der Altstadt, aber beten helfe schon irgendwie, dessen waren sie gewiss!