BLUNTSCHLISTRASSE – DER LEBENSABEND

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Wie konnten die Leute, fragte er sich, Parteien wählen, die in einer so reichen und kompetenten Gesellschaft, den Schwachen solche Demütigungen zumuteten. Warum taten sie das? Und wie kam es, dass selbst sozial eingestellte Politiker und Politikerinnen nach ihrer Wahl urplötzlich so ganz anders daherredeten und dem „Prekariat“ Faulheit unterstellten. Oder „anstrengungslosen Einkommensbezug“, wie es ein renommierter Jurist aus seiner Stadt, der einmal als Finanzminister im Kabinett der Kanzlerin gehandelt worden war, gerade noch einmal meisterhaft formuliert hatte. Was für ein Terminus! Warum wehrten sich die Leute nicht wenigstens mit dem Stimmzettel? Nun gut, ein bisschen tun sie es ja, dachte Paul, nur ist das nicht genug und geht in die falsche Richtung.

Schon in den kleinen Dingen des Alltags bemerkte Paul, der seine Umwelt gerne aufmerksam beobachtete, den neuerlichen Paradigmenwechsel der Menschen hin zu Übervorsicht, ja Angst und leider auch Dummheit. Stand er am Postschalter in der Warteschlange, so stellte er fest, dass viele Leute nicht bis zur Stoppmarkierung vordrangen, sondern bis zu drei Meter noch vor dieser Linie warteten, bis sie dran waren. Sie legten den angemahnten „Höflichkeitsabstand“ wie aus dem Off gelenkt als Hygienemaßnahme aus und übererfüllten die Anforderung sogar. War es Ekel vor dem Vordermann oder Vorsicht, nicht zu nahe an die Vorderfrau heranzutreten? Wenn er in dem gelben Quadrat am Bahnsteig, wo das Rauchen erlaubt ist, stand und paffte, und diese Markierung versehentlich mal missachtete, fanden sich durchaus eifrige Mitmenschen, die ihn auf seinen Regelübertritt aufmerksam machten. Und prompt meldete sich dann auch die Stimme aus dem Lautsprecher: „Bitte beachten Sie, dass..!“ Er konnte sich not amused, vorstellen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Lautsprecherstimme ihn eines Tages persönlich ansprechen würde: „Guten Tag, Herr Schmeil, bitte beachten Sie…“ Woher kamen diese Angst, dieser Eifer einerseits, diese Vermessenheit andererseits?

Wenn er einmal durch die belebte Fußgängerzone seiner Stadt lief, sah er unzählige verhetzte Mitmenschen mit vergrämten Gesichtern, sah er junge wie alte Leute, die gebannt auf die Messages ihrer Smartphones starrten, dabei Entgegenkommende rempelten, ohne sich zu entschuldigen, oder fast gegen Bäume, Laternen oder Bänke knallten. Welche „Weisungen“ nahmen diese Leute in solchen Momenten entgegen, welche erteilten sie, welche Nachrichten schluckten sie? Ihre Gesichter verhießen in der Regel nichts Gutes. Wenn die Polizei, vorgefahren mit dem Blaulicht-Wagen, um gegebenenfalls die Instrumente abzutransportieren, Freiluftmusiker kontrollierte, bildeten sich nicht mehr wie früher Menschentrauben, die das Verhalten der Uniformierten aufmerksam beobachteten und auch mal intervenierten, wenn es Ihnen erforderlich schien. Woher kamen dieser neue, biedermeierliche Untertanengeist, diese Indifferenz, fragte sich Paul und packte weiter seine Wohnungssachen in die Kisten.

Paul war froh gewesen, als das gewaltige Erkenntnisinteresse der Sozialen nach drei Monaten schließlich saturiert schien, aber ihm wurde noch eine weitere Lektion erteilt. Der Komödienstadel lief immer noch auf Touren! Als er den nächsten Brief des Amtes aus dem Briefkasten fischte, dachte er zunächst, es würden endlich einmal positive Nachrichten sein, Erfolge bei der Wohnungssuche für ihn oder wenigstens der Bescheid über eine finanzielle Förderung. Er täuschte sich jedoch, denn in dem Schreiben wurde darauf hingewiesen, dass sein Schonvermögen, dessen Grenze bei fünftausend Euro liegt, um tausendfünfhundert Euro zu hoch sei. Man tendiere dazu, seinen Antrag deshalb abzulehnen. Eine Alternative böte sich insoweit, als er am besten seinen Antrag zurückzöge und erst dann einen Neuantrag stelle, wenn seine Selbstbehalt-Grenze beim Sparvermögen de facto erreicht sei. Der Gesetzgeber wolle dies so, man habe keine andere Wahl. Die Wohnungssuche könne man beibehalten. Mit freundlichem Gruß. Das Amt.

Während Paul diesen neuen Brief gelesen hatte, war die Zornesröte in sein Gesicht gestiegen und seine Lebensadern hatten zu vibrieren begonnen. Er wollte nicht privilegiert werden, aber das Gesetz sah doch ausdrücklich auch „Einzelfallbewertung“ vor! Was ist beim Wohnungswechsel mit der Renovierung, der Kaution, den Umzugskosten? Und warum hatten sie ihm dies nicht zwei Monate früher mitgeteilt, sie hatten doch längst Bescheid gewusst, wie es um sein Sparguthaben stand. Er hatte aufpassen müssen, dass sein Wutanfall nicht zu intensive Dimensionen erreichte, denn er lavierte wegen einer Schlafapnoe, die bald behandelt werden würde, seit längerem mit einem unregelmäßigen und meist deutlich zu hohem Blutdruck herum. Für einen Phlegmatiker wie ihn ein deutliches Alarmzeichen. Nach der Einnahme eines Beruhigungstees hatte er sich mit der Sache rasch abgefunden, es blieb ihm ja nichts Anderes übrig. Er hatte seinen Antrag auf finanzielle Förderung zurückgestellt und sechs Wochen später einen Neuantrag eingereicht, bei dem er die gesamte Tortur der Belegeinreichung in gewisser Weise noch einmal zu durchlaufen hatte, nur dass er diesmal bei den Belegen etwas besser aufgestellt war und lediglich deren Aktualisierung bewerkstelligen musste. Schließlich hatten sie nach jenem Hängen und Würgen vor circa einem Monat sein Begehren angenommen und ihm dabei folgende Rechnung aufgemacht:

Bedarf aktuell = 1.200 Euro (Miete mit Nebenkosten)
plus 424 Euro Regelsatz fürs Leben minus 800 Euro Rente.

Ihm standen also, solange er noch in seiner Altstadt-Wohnung lebte, monatlich 824 Euro aus dem Staatssäckel zu. Nicht schlecht!  Immerhin! Und sie würden sich bemühen, eine ihm zustehende Wohnung zu finden. Fünfundvierzig Quadratmeter Deutschland, auf welche die sechs Quadratmeter des vorhandenen Balkons zu einem Viertel angerechnet worden waren. Also dreiundvierzigkommafünf Quadratmeter!

Einerseits war Paul nun froh gewesen, dass er finanzielle Unterstützung bekommen sollte, aber er hatte noch keine neue Wohnung. Da er sich aber sicher sein konnte, dass das Amt dem aus ihrer Sicht relativ hohen Monatsbetrag an ihn nur ausgesprochen ungern stattgegeben hatte, konnte er davon ausgehen, dass man ihm bald eine Wohnung vermitteln, sich jedenfalls mit Verve darum bemühen würde, um dann die Monatszahlung nach unten anzupassen. Und so geschah es schließlich auch. Kurze Zeit später hatten sie ihm die Kleinwohnung in besagter Bluntschlistraße angeboten, und er saß nun auf gepackten Koffern und Kisten. Die neue Kalkulation, die sie ihm eröffneten, ging nunmehr so:

Bedarf aktuell = 550 Euro (Miete mit Nebenkosten)
plus 424 Euro Regelsatz fürs Leben minus 800 Euro Rente

Er wurde fortan demnach mit 174 Euro finanziell gefördert. Zusatzverdienst bei dieser Rechnung wenig statthaft.

Übermorgen würde nun also der Umzugstransporter kommen. Paul Schmeil würde sich, wie so viele andere, prekäre Alte daran gewöhnen müssen, auf engstem Raum zu wohnen und mit vierzehn Euro pro Tag „für alles“ auszukommen. Von der neuen Politik des Sozialbürokratiestaats erwartete er… nichts. Die Sozialen hatten geleistet, es hatte halt etwas gedauert. Undankbar sollte er darob nicht sein, es war gesellschaftlicher Konsens quer durch die Bank. Ja, ja, jeder ist seines Glückes Schmied.

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