BLUNTSCHLISTRASSE – DER LEBENSABEND

B

Alter ist nur geehrt unter der Bedingung, dass es sich selbst verteidigt, seine Rechte behält, sich niemandem unterordnet und bis zum letzten Atemzug die eigene Domäne behält.


Marcus Tullius Cicero, De Senectute

Was der Mensch zum Leben notwendig braucht, darum soll er nicht erst bitten, sondern er soll es nehmen.

Wilhelm Weitling

„Die Staatsanwaltschaft zeigte der Hohen Regierung an, daß sie sich veranlasst gesehen, den Deutschen Wilhelm Weitling, der sich als Kommunist durch mehrere Schriften, insbesondere durch seine „Garantien der Harmonie und Freiheit“ hervorgethan hatte, zu verhaften. Er habe beabsichtigt, eine neue für das Volk berechnete Schrift dieser Art: „Evangelium des armen Sünders“, in Zürich drucken zu lassen, eine Schrift deren Prospectus schon auf einen blasphemirenden und die Persönlichkeit Christi sowohl als die christliche Religion herabwürdigenden Inhalt habe schließen lassen. Gleichzeitig habe sie, um sich dieser Schrift zu bemächtigen noch in der Nacht sowohl das abgeläugnete Manukript als die bereits gedruckten Bogen bei dem Buchdrucker Heß mit Beschlag belegt. Sie habe umso rascher eingegriffen, da Anzeichen vorhanden gewesen seien, dass beabsichtigt werde, diese Schrift aus dem bisherigen Druckorte zu entfernen und dem Bereiche der Staatsgewalt zu entziehen. Bei Weitling seien sodann eine bedeutende Zahl von wichtigen Papieren aufgefunden worden, welche Aufschlüsse über das kommunistische Treiben in der Schweiz gewähren.“


Schmeil saß auf einem Stuhl inmitten des Wohnzimmers seiner geräumigen, für ihn allein zu großen und zudem auch zu teuer gewordenen Hundertquadratmeter-Wohnung samt Balkon, umgeben von zahlreichen bereits gefüllten und noch leeren, aber schon aufgespannten Umzugskisten, und las, sich eine Rauchpause gönnend, die Textpassage gleich zweimal. Es handelte sich um die allerersten Sätze des Berichts „Die Kommunisten in der Schweiz“ [1] aus der Sütterlin-Feder von Johann Kaspar Bluntschli, um jenen akkuraten Kommissionsbericht an die Standesregierung in Zürich über das Wirken des religiös inspirierten Kommunisten Wilhelm Weitling und seiner damaligen Kombattanten. Schmeil hatte das juristische Pam-phlet in einem Antiquariat entdeckt und aus gutem Grund sogleich erstanden.

Bluntschli, geboren 1808, war ein, wie es heißt, liberal-konservativer Schweizer Jurist, der in den frühen Berufsjahren in Zürich wirkte, dann in München und später auch in Heidelberg Staats- und Völkerrecht gelehrt hatte, wo er auch starb und auf dem dortigen Bergfriedhof begraben ist. Schon früh entdeckte er zudem das Freimaurertum für sich und entwickelte sich später in Heidelberg zu einem höchst aktiven Mitglied der Loge „Ruprecht von den Rosen“. Auf der Grundlage jenes ominösen „Bluntschli-Berichts“ war der Schneidergeselle Weitling in der Schweiz dereinst weggeschlossen worden und hatte dann fast ein ganzes Jahr lang im Zürcher Kerker geschmort. Nach der Haft verließ der gebürtige Magdeburger sogleich die Schweiz in Richtung Deutschland und wanderte nach mehr oder minder solidarischen Kämpfen an der Seite von Marx und Engels, mit denen es alsbald zu tiefen, inhaltlichen Differenzen und konfligierenden Führungsansprüchen gekommen war, in die Vereinigten Staaten von Amerika aus, gründete dort eine zum Scheitern verurteilte Kommune, heiratete eine lokal ansässige Deutsche, übte dann wieder seinen alten Schneiderberuf aus und sah schließlich, gealtert und zurückgezogen lebend, in New York seinem Ende im Jahr 1871 entgegen, zehn Jahre vor Bluntschlis Tod.

Des Schweizer Staatsrechtlers ehemaliges Heidelberger Domizil befindet sich nur ein paar Schritte von der Wohnung entfernt, wo Schmeil nun schon seit dreißig Jahren nahe der kleinen Bäckerei wohnte, die feines Brot bäckt und mit den besten Mandelhörnchen und Nussschiffchen der Stadt aufwartet, und ganz nahe auch der Weinhandlung, wo er sich gerne seinen Crémant holte. In dieser auf den Namen März getauften Altstadt-Gasse, seiner „Heimatgasse“, hatte er mit deutlich mehr Höhen als Tiefen die besten Jahre seines Lebens verbracht! Drei Jahrzehnte!  Wenn man von jener Gasse in die schmale Plöck einbiegt und ein Stück weit in Richtung alte Universitätsbibliothek läuft, stößt man alsbald auf Bluntschlis Wohnhaus mit der Nummer 68. Heute residiert dort, vielleicht nicht ganz unpassend, ein „Verein deutscher Studenten“, eine burschenschaftliche Korporation. Im Heidelberger Stadtteil Bergheim aber, wo der Schweizer nie gewohnt hatte, ist eine ganze Straße nach dem machtbuckligen Staatsrechtler benannt, die Bluntschli-Straße! 

„Jetzt verschaffen sie mich also aus meiner Heimatgasse dorthin, just in diese Bluntschli-Straße, benannt nach diesem Kommunistenfresser“, der Schmeil für Momente irgendwie an Calvin erinnerte: dieser ebenfalls Schweizer und studierter Jurist, überzeugter Protestant, mit missionarischem Eifer agierend und bekanntlich gnadenlos mit seinen Gegnern um-springend. Gut, Bluntschli war als renommierter Staatsrechtler in jenen umtriebigen Zeiten in der Schweiz die Dinge gelassener angegangen, keine Folter, keine Scheiterhaufen, kein Verbrennen mehr mit unterschiedlich gewählter Intensität des gelenkten Feuers, je nach Strafmaß für die Dissidenten, wie noch bei Calvin annodazumal, dachte Schmeil. Aber jedenfalls als Jurist seinerseits auf bemüht sachliche Weise ebenfalls knochenhart im Umgang mit denen, die er als Staatsfeinde ausgemacht hatte und für deren Aburteilung er Materialsammlungen anfertigte und einflussreiche Gesetzbuch-Entwürfe verfassen durfte! Die dem Verfechter des Nationalstaats Bluntschli nachgesagte Liberalität kannte durchaus eng gezogene Grenzen. Was dem Calvin in seinem Gottesstaat die bösen Katholiken, waren dem Bluntschli die verwerflichen Kommunisten gewesen, sinnierte Schmeil weiter. Was jenem sein Genf, war diesem sein Zürich, was jenem sein strafendes Feuer, war diesem die Stickigkeit der Kerkerzellen gewesen.

Paul, um nun Schmeils Vornamen endlich einzuführen, war ein in die Jahre gekommener Herr mit stämmigem Körperbau und weißen Haaren, dem man sein Rentenalter trotzdem nicht wirklich ansah, wenngleich die junge Generation Leute seines Schlags gerne „Mumien“ zu nennen pflegte. Er war übrigens in keiner Weise verwandt mit dem berühmten Botaniker und Freimaurer in einer anderen Loge als Bluntschli, der seit 1908 in seiner Stadt gelebt hatte, gegen Kriegsende gestorben war und den Vornamen Otto trug. Otto Schmeil aus Heidelberg. Jedenfalls wusste Paul nichts über einen möglichen, gemeinsamen Stammbaum mit diesem Pflanzenkundler.

Paul also legte das kleine Bändchen mit dem Schmähbericht Bluntschlis beiseite und ließ den Stummel seiner Brissago ausglimmen. Etwas rat- und rastlos blickte er auf die vielen Kartons, die im Zimmer herumstanden. Wo sollte er all das „Zeug“ in seiner neuen fünfundvierzig Quadratmeter-Wohnung bloß unterbringen? Er hatte schon so Vieles ausgesondert und entsorgt. Was jetzt noch da war, lag ihm am Herzen, war ihm zu schade für den Müll, den Sperrmüll oder irgendeinen anonymen Verkauf. Er schaute aus dem geöffneten Fenster und sah drüben auf dem Spielplatz wie eh und je die tollenden Kleinkinder, wenn das Frühjahr sich mit den ersten milden Sonnenstrahlen anmeldete. Gleich würden die Tore des nahen Gymnasiums aufplatzen und Gruppen von Pennälern mit fröhlichem Gejohle  die diversen Imbissläden in seiner Umgebung stürmen, auch die kleine Bäckerei und sogar das Weinkontor, wo es nicht nur Alkohol gab, sondern auch Drops, Zuckerspeck und Gummibärchen für die Kleineren. Es war Mittag geworden, während Paul die Kartons mit schönem Krimskrams, Geschirr und seinen unzähligen Büchern in langwieriger Sortier- und Einwickelarbeit gefüllt hatte.

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