„Tote auf Urlaub“ – Erinnerungsblätter für die Westentasche

32 Porträts

Sie, junge und sehr junge Männer und Frauen weltweit, kämpften auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Epochen für hehre oder einfach nur plausible Ziele, fühlten sich hohen ethischen Ansprüchen verpflichtet und waren ein Dorn im Auge von Diktatoren, von Kolonisatoren und Sklavenhaltern, von Erzkapitalisten und Ausbeutern. Zum Teil sind sie es posthum bis heute noch. Sie kämpften mit der Waffe oder mit der Kraft der Worte gegen Tyrannei, Okkupation und Misere. Sie kämpften für Unabhängigkeit, Frieden und soziale Gerechtigkeit. Nicht wenige ließen sich von Visionen leiten, ohne deshalb zum Arzt zu gehen, um das Bonmot eines ehemaligen deutschen Bundeskanzlers aufzugreifen. Sie gaben bzw. verloren ihr Leben im Widerstand oder bei der Umsetzung konkreter Utopien, teilweise auch aus neu erworbenen, hohen Machtpositionen heraus. Alle starben sie jung und durchweg eines gewaltsamen Todes. Keiner und Keine von ihnen lebte über das vierzigste Lebensjahr hinaus. Im Sinne von Eugen Leviné waren sie „Tote auf Urlaub“ (1), als sie noch lebten und wirkten. 

Hier eine AUSWAHL (2), die ich, klar doch, auf meine Kappe nehme: achtundzwanzig Fälle „en miniature“ sowie – kontrapunktisch – vier Glücksfälle. Erinnern wir uns, indem wir dabei auch weit in die Weltgeschichte zurückblicken und somit einen großen Bogen spannen!

Spartacus starb im Alter von gerade einmal 40 Jahren im Kampf gegen die Legionen des römischen Feldherrn Crassus in einer Schlacht bei Tarent und Brindisi. Sein Todesjahr datiert auf das Jahr 71 vor Christus – acht Jahre nach dem verheerenden Ausbruch des Vulkans Vesuv bei Neapel. Tausende seiner Mitstreiter wurden gekreuzigt. Spartacus selbst war ursprünglich ein an eine Gladiatorenschule verkaufter Sklave, der zusammen mit anderen Sklaven im Jahr 73 fliehen konnte. Er führte die damaligen Aufstände an und kämpfte in mehreren Schlachten gegen die Sklaverei und für soziale Gerechtigkeit, die er auch selbst unmittelbar praktizierte. Vor allem im Süden des „Stiefels“ hatte Spartacus großen Rückhalt in der ländlichen Bevölkerung. 

Jesus von Nazareth starb mit dreißig Jahren zu Beginn unserer Zeitrechnung auf Veranlassung des römischen Statthalters Pilatus qualvoll am Kreuz. Auf seinem Weg zum Golgatha-Felsen nahe beim damaligen Jerusalem, der sog. Via Dolorosa, wurde er misshandelt und verspottet, aber von einfachen Leuten auch aufrichtig und unter Trauer bemitleidet. Es gab auch Wegbegleiter/innen, die seine Not zu lindern versuchten. Zu seiner Kreuzigung setzte man ihm eine Dornenkrone aufs Haupt. Er gilt als Religionsstifter und kämpfte ohne Waffen mit der Überzeugungskraft seiner Worte, vor allem der Bergpredigt, jenem Manifest gegen die Pharisäer und zugunsten der Armen und Unterdrückten. Und er wirkte mit den ihm zugeschriebenen Wundertaten. Ob er der Sohn Gottes war und tatsächlich Wunder vollbrachte, mag man glauben oder auch nicht. Jedenfalls war er ein guter und gütiger Mensch. Und, wie manche sagen, ein…Revolutionär.

Jeanne d`Arc (Johanna von Orleans) war erst 19 Jahre alt, als sie nach ihrer Inhaftierung und Verurteilung den Tod durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen in Rouen erlitt. Dies trug sich im Jahr 1431 zu. Sie hatte als Französin gegen die feindlichen Burgunder und die englische Besatzungsmacht zu Ende des 100-jährigen Kriegs gekämpft und außerordentlichen Mut bei der Befreiung der Stadt Orleans und einiger besetzter Loire-Burgen bewiesen. Hierbei handelte sie im Auftrag des zunächst zögerlichen Dauphins (3), den sie von ihrer Vision, die Besatzer besiegen zu können, überzeugen konnte. Einmal wurde sie von einem Pfeil schwer getroffen, kämpfte aber trotzdem weiter. Mit ihren vielfältigen spirituellen Visionen galt sie den Kirchenoberen als Häretikerin. Nachdem sich der Dauphin von ihr abgewandt hatte, wurde sie, die heute als „Heilige“ gilt, festgenommen und exkommuniziert, bald nach ihrem Tod aber rehabilitiert.

Thomas Müntzer erlitt im Jahr 1525, dem Hauptjahr des Deutschen Bauernkriegs, einen grausamen Tod durch Enthauptung nach tagelanger Folter in einer Festung. Seine Festnahme erfolgte kurz nach der verheerenden Schlacht bei Frankenhausen. Müntzer wurde 36 Jahre alt. In seinen beiden letzten Lebensjahren hatte sich der geweihte Priester zum bekanntesten Fürsprecher der Bauern bei ihren häufigen Aufständen entwickelt. Die bäuerlichen Rebellen, die auch Überfälle auf Klöster und Burgen begingen, wollten sich vor allem von der immer unerträglicheren Abgabenlast und den bitteren Frondiensten befreien. Müntzer trug als schreibender und predigender Visionär mit aufwühlendem sozialrevolutionärem Pathos zu den Massenaufständen bei und half den verarmten Bauern, wie und wo er nur konnte – mit Armenspeisungen, Räumen für Obdachlose, etc.

Georges Danton starb im Alter von 34 Jahren durch die berüchtigte Guillotine. Er war einer der führenden Köpfe der französischen Revolution von 1789, mit der der Absolutismus der Vorzeit erst einmal abgelöst wurde (Parole: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, symbolisch: die Marseillaise), und zeitweilig Justizminister sowie Leiter des Ersten Wohlfahrtsausschusses gewesen. Sein Versuch, den sich ausbreitenden Terror der neuen politischen Eliten zu stoppen, wurde ihm zum Verhängnis (4). Saint Just und vor allem Robespierre betrieben seine Absetzung und Verurteilung unter dem Vorwand royalistischer Verschwörung. Die Revolution hatte begonnen, ihre Kinder zu fressen, lautet ein seitdem bekannter Spruch eines damaligen Girondisten.

Anita Garibaldi (5) starb 1849 mit fast 28 Jahren im italienischen Unabhängigkeitskampf gegen die Österreicher und Franzosen, dem „Risorgimento“. Die Südostbrasilianerin kämpfte zunächst in ihrem Heimatland zu Pferd und mit der Waffe und später zeitweilig im Nachbarland Uruguay, das von Argentiniens Truppen bedrängt worden war, gegen Unterdrückung und Okkupation. In ihrer Heimatstadt Laguna lernte sie den italienischen Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi kennen, der vor seiner befürchteten Festnahme aus Norditalien geflohen war. Sie wurde seine Ehefrau und Gesinnungsgenossin. Als Garibaldi nach Italien zurückkehrte, begleitete sie ihn und kämpfte in Rom an seiner Seite. Zusammen mit ihrem sardischen Mann wurde die „Heroine zweier Welten“ von den Bourbonen in die Flucht geschlagen und von den Österreichern auf dem Weg nach Norden verfolgt. Mit ihren Mitstreitern wurden sie in gefährliche Scharmützel verwickelt, wobei sie mehrmals nur knapp entkamen. Fiebernd wegen einer Infektion, vielleicht Malaria, und völlig erschöpft starb sie in einer Hütte bei Ravenna, wo sie Zuflucht gefunden hatte. Mit ihr starb das Baby in ihrem Bauch, ihr sechstes Kind. 

Sándor Petöfi, Ungarns verehrter Nationaldichter (Nationalpoem „Talpra Magyar“, Auf, die Heimat ruft, Magyaren…), starb 1849 im damaligen Großfürstentum Siebenbürgen mit 26 Jahren durch den Stich einer Kosakenlanze. Er gilt als Volksheld der ungarischen Revolution von 1848. In jenem Entscheidungsjahr führte er die revoltierende Pester (6) Jugend an. Sein kämpferisches Gedicht wurde bei einer Großdemonstration in Pest als Flugblatt massenhaft verbreitet und von ihm selbst verlesen. Petöfi wurde Hauptmann eines Landwehrbataillons im heutigen Ostungarn. Er kämpfte gegen die Vormacht der Habsburger und fand Mitte 1849 in der Schlacht bei Sighișoara (Siebenbürgen) den Tod. Seine Leiche wurde nie gefunden.

Rani Lakshmibai aus Jhansi in Nordindienwar 30 Jahre jung, als sie im Kampf gegen die britischen Eroberer starb. Dies geschah 1858. Sie wurde zunächst mit einem Säbel verwundet, dann von einem Reiter der britischen Kavallerie mit dem Gewehr erschossen. Rani bedeutet Prinzessin oder gar Königin, in diesem Fall von Jhansi, einem Distrikt im Bundesstaat Uttar Pradesh. Die Rani war in den Krieg mit den britischen Besatzern hineingetrieben worden und hatte sich dann zu einer Führerin des großen indischen Aufstands von 1857 gegen die Briten und ihre Verbündeten entwickelt.

Tashunka Witko (Crazy Horse), der ein Anführer der nordamerikanischen Oglala-Indianer vom Stamme der Lakota war (westlicher Sioux-Stamm), starb sehr wahrscheinlich durch Bajonett-Stiche eines US-Soldaten, jedenfalls aber gewaltsam. Dies geschah, als er circa 37 Jahre alt war. Er lieferte sich zuvor verlustreiche Gefechte mit dem damaligen US-Heer und kämpfte am Little Bighorn, einem County in Montana, gegen General Custer, was für ihn mit einer schweren Niederlage endete. Daraufhin ergaben sich die Sioux, wurden aber weiterhin verfolgt. Tashunka, der für seinen Mut und seine Opferbereitschaft bekannt war, war plötzlich isoliert und wurde auch von abtrünnigen Lakotas verraten. Bei einer versuchten Festnahme wehrte er sich und wurde schließlich getötet.

Jose Rizal (7) wurde im Alter von 35 Jahren in Manila in einem Gefängnishof wegen angeblichen Hochverrats füsiliert. Ein Kriegsgericht der spanischen Kolonisatoren hatte ihn zum Tode verurteilt. Der polyglotte Arzt, Philosoph und Literat wurde 1896 mit Gewehrschüssen in den Rücken hingerichtet. Der reformerische Philippiner, der als Polymath galt, hatte eine teilautonome Republik für sein Land im Rahmen der spanischen Kolonisierung angestrebt und sich als Romanautor mit spitzer Feder vor allem gegen die klerikale Obrigkeit der Kolonialmacht gewandt. In seinem Land gilt er als Nationalheld.  Im Jahr 1886 hielt sich Rizal als lernender und assistierender Augenkundler für einige Monate in Heidelberg und Wilhelmsfeld auf und unternahm Reisen in Europa.

Eugen Leviné starb 36-jährig gegen Ende der MünchnerRäterepublik. Er wurde wegen angeblichen Hochverrats zum Tode verurteilt und im Gefängnis Stadelheim 1919 erschossen.  Leviné, in Sank Petersburg geboren und früh mit seiner Mutter nach Deutschland übergesiedelt, nahm an der – ersten – Russischen Revolution von 1905 teil und wurde mehrmals verhaftet und misshandelt. Erst 1909 kehrte er wieder nach Deutschland zurück, wo er in Heidelberg Wirtschaftswissenschaften studierte. Als inzwischen deutscher Staatsbürger trat er in die USPD ein und begründete den Spartakusbund mit, aus dem die frühe KPD hervorging. Zuletzt war er Delegierter der Münchner KPD beim Reichsrätekongresses. Von ihm stammt der bekannte Satz „Wir Kommunisten sind Tote auf Urlaub.“

Emiliano Zapata hatte es in seinem revolutionären Leben mit einer ganzen Reihe von zwielichtigen Staatsoberhäuptern und blutrünstigen Diktatoren zu tun, unter ihnen Victoriano Huerta. Zu Fall brachte ihn der im Grunde gemäßigte Venustiano Carranzas, der Huerta bekämpfte und für drei Jahre gewählter mexikanischer Präsident wurde (1917 bis 1920). Zapata starb 1919, vier Monate vor seinem 40. Geburtstag auf einer Hazienda im Kugelhagel seiner Meuchelmörder vom Militär, die ihm eine heimtückische Falle gestellt hatten. Drahtzieher war Carranzas gewesen, gegen den sich Zapata misstrauisch positioniert hatte. Während der landesweiten Aufstände der Besitzlosen, bei denen eine umfangreiche Landreform und die Befreiung aus der Armut im Zentrum der Bestrebungen stand, war Zapata unumstrittener Anführer der revolutionären Bewegung im Süden Mexikos und erstritt sich hierbei seinen legendären Ruf als „Retter der Armen“. 

Bartolomeo Vanzetti und Nicola Sacco, zwei aus Italien eingewanderte Arbeiter, die der damaligen anarchistischen Bewegung in den USA angehörten, wurden 1927 kurz nacheinander auf dem elektrischen Stuhl im Gefängnis von Charleston hingerichtet. Sacco war 36, Vanzetti 39 Jahre alt. Vorausgegangen war dem ein Indizienprozess mit zwei Todesurteilen, bei dem ein angeblicher Raubmord eine Rolle spielte. Es folgte eine 7-jährige Inhaftierung. Der damalige Schuldspruch führte zu weltweiten Massendemonstrationen. Für die Kritiker war es hetzerische Klassenjustiz, die der Gouverneur von Massachusetts ein halbes Jahrhundert später indirekt bestätigte. Die beiden Anarchisten galten fortan als rehabilitiert. Der Schuldspruch sei „vorurteilshaft und nicht gerecht“ gewesen. Das Lied „Here´s to you“ von Woody Guthrie, das auch Joan Baez und G. Moustaki sangen, ging später um die Welt.

Julio Antonio Mella wurde 1929 von Agenten des kubanischen Diktators Machado in Mexiko nachts auf offener Straße erschossen. Dies trug sich wenige Wochen vor seinem 26. Geburtstag zu. Die Behörden bezichtigten seine kurzzeitige Gefährtin Tina Modotti, eine fähige italienische Fotografin und Revolutionärin, die sich später während des Spanischen Bürgerkriegs im medizinischen Hilfsdienst aufopferte, öffentlich der Tat und wiesen sie später in Ermangelung von Beweisen aus, ohne sie zu verhaften. Mella war Mitbegründer der kubanischen Kommunistischen Partei gewesen, die ihn später wegen angeblicher ideologischer Abweichung verstieß. Er gründete die „Volksuniversität José Marti“ und die „Antiimperialistische Liga Kubas“ und war als linker Studentenführer gegen die Diktatur aktiv, bis er von der Universität Havanna exmatrikuliert wurde. Mella wurde verhaftet, trat in den Hungerstreik und kam wieder frei. Während seiner Zeit in Mexiko, wohin er vor der Verfolgung durch Machado und vor drohender erneuter Verhaftung geflohen war, gehörte er alsbald zum illustren, aber auch tragischen Kreis von Frida Kahlo und Diego Rivera.

Augusto Cesar Sandino war 39, als ihn das heftige Schicksal eines unbeugsamen Kämpfers gegen die Unterwerfung seines Landes unter die Kautelen der USA ereilte, die damals zweimal für jeweils mehrere Jahre militärisch interveniert hatten. Sandino fand 1934 einen gewaltsamen Tod. Als „General“ führte er die Guerilla-Bewegung gegen die ausländischen Besatzer an. Der spätere Diktator Anastasio Somoza García ließ Sandino bei einem Bankett in Managua heimtückisch ermorden. Dieser war in die Hauptstadt gekommen, um über einen Friedensvertrag zu verhandeln. Vorher hatten Sandinos Leute und er selbst nach dem Abzug der US-Truppen 1933 arglos die Waffen niedergelegt. Die Sandinisten konnten den mächtigen Somoza-Clan erst 1979 verjagen (8).

Sophie Scholl und Hans Scholl aus Ulm wurden am gleichen Tag in Berlin im Gefängnis zum Tode verurteilt und von Schergen des Nazi-Regimes enthauptet. Sie war 21, er war 24 Jahre alt. Mit ihnen starb ihr Freund Christoph Probst. Alle drei gehörten sie der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ an, die die Geschwister Scholl gegründet hatten. Diese waren in früheren Jahren schon öfters kurzzeitig in Haft gewesen. Anlass der letzten Verhaftung durch die Gestapo war ihre Flugblattaktion (das sog. Stalingrad-Flugblatt Nr. VI) in der Münchener Universität gewesen, die Anfang 1943 weite Kreise gezogen hatte. Bei jener Aktion hatten sie zum Sturz des verbrecherischen Nazi-Regimes aufgerufen. Der Volksgerichtshof der Nazi-Justiz hatte ihnen sofort Hochverrat und Feindbegünstigung vorgeworfen. Hans Scholl engagierte sich früh beim CVJM und in der Bündischen Jugend. Die in ihren letzten Lebensjahren tiefreligiöse Kindergärtnerin Sophie Scholl folgte christlich-protestantischen Prinzipien mit hohem ethischem Anspruch. Viele Schulen, Institute und Straßen in Deutschland sind nach ihr oder beiden Geschwistern benannt.

Dietrich Bonhoeffer starb kurz vor Kriegsende im Widerstand gegen den deutschen Nationalsozialismus im KZ Flossenbürg in der Oberpfalz. Er war 39 Jahre alt, als er nach einem Scheinprozess ohne Verteidiger und Zeugen zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Er gehörte zu dem bekannten Widerstandskreis, in dem auch abtrünnige Wehrmacht-Militärs damals heimlich aktiv waren. Zuvor war der gelehrte evangelische Theologe, der im Falle Hitlers den Tyrannenmord für gerechtfertigt hielt, neben anderen Mitstreitern ein persönlicher Gefangener des Diktators in Berlin (Prinz Albrecht-Straße 8). Bonhoeffer war konspirativ tätig, aber nicht unmittelbar an den Attentaten oder deren Planung beteiligt. Er wurde im Kontext der beiden gescheiterten Attentate im März 1943 und Juli 1944 abgeurteilt. Er selbst sah sich in reichlich selbstloser christlich-ethischer Abwägung „nicht als unschuldig“ an und nahm insoweit „die Schuld“ auf sich bzw. stand zu ihr. Seit 1998, als die NS-Gesetze für nichtig erklärt worden waren, gilt der vielfach Geehrte endlich de jure als unschuldig. 

Abel Santamaria wurde im Juli 1953 beim misslungenen Überfall auf die Militärkaserne Moncada in Santiago de Cuba gefoltert und kam anschließend im Gefängnis an den Folgen der Misshandlung ums Leben. Noch in der Kaserne hatte man ihm die Augen ausgestochen und damit seine ebenfalls gefangene Schwester Haydée vergeblich zu erpressen versucht. Als Abel umkam, war er gerade mal 25 Jahre alt. Haydee blieb am Leben und setzte später den Kampf gegen den Diktator Batista auch im Sinne ihres Bruders in der „Bewegung des 26. Juli“ fort.  Ab 1959 war sie als führende Kulturfunktionärin der Revolution aktiv und eine enge politische Weggefährtin Fidel Castros. Abel Santamaria hatte zusammen mit Fidel Castro den Plan zum waghalsigen Angriff auf die Moncada ausgearbeitet, der trotz oder gerade wegen der Opfer – dutzende Tote, viele Verhaftungen – als der eigentliche Beginn der kubanischen Revolution gilt. Der junge Revolutionär wurde vielfach posthum ausgezeichnet und wird bis heute als „Märtyrer der Revolution“ geehrt. In Santa Clara, der sechstgrößten Stadt Kubas, ist der Flughafen nach ihm benannt.

Camilo Cienfuegos starb im Spätjahr 1959 wenige Monate nach der Vertreibung des Diktators Batista mit 27 Jahren bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz in der Meerenge von Florida. Er war ein sehr bekannter und einflussreicher kubanischer Revolutionär und führend aktiv in der Bewegung des 26. Juli, die den Diktator Batista stürzte, der das Land mit seiner Entourage fluchtartig und mit einem prall gefüllten Geldkoffer verlassen hatte, kurz bevor Havanna von den siegreichen Guerilleros gestürmt wurde. Er gehörte der christlich-revolutionären Jugendbewegung seines Landes an. Weder das Flugzeug noch Cienfuegos selbst wurden je gefunden. Es gilt als umstritten, wer für seinen Tod verantwortlich ist bzw. ob es ein Unfall war. In Kuba gilt er als Nationalheld.

Camilo Torres starb 1966 bei seinem ersten und zugleich letzten Gefecht gegen Regierungstruppen im kolumbianischen Dschungel. Er wurde 37 Jahre alt. Als katholischer Priester, Seelsorger und Sozialarbeiter hatte er sich zur überwiegend katholischen Befreiungstheologie Lateinamerikas bekannt. Als wichtige Stimme des Kampfes gegen Armut und Unterdrückung organisierte er nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in West-Berlin und seiner Rückkehr seine „christlich-kommunistische Bewegung“ und eine breite Einheitsfront in seinem Land. 1965 ging Torres in den Untergrund und wurde ein Jahr vor seinem Tod aktives Mitglied der frühen kolumbianischen Guerilla (ELN bis heute). Lange Zeit war diese den Bauernrevolten des Landes eng verbunden.

Patrice Lumumba wurde im gleichen Jahr wie Camilo Torres, also 1966, in der Volksrepublik Kongo ermordet, deren Premierminister er seit der Unabhängigkeit von Belgien gewesen war. Er wurde zusammen mit einigen Gefolgsleuten entführt und in eine Waldhütte in der Provinz Katanga verschleppt, dort schwer gefoltert und später von örtlichen Soldaten, die unter belgischem Kommando standen, erschossen. Dem belgischen König Baudouin wurde 2001 in einem ausführlichen Untersuchungsbericht eine Mitwisserschaft und Mitschuld zugeschrieben. Die entsprechende Kommission war vom belgischen Parlament eingesetzt worden. Sehr wahrscheinlich hat auch die CIA im Auftrag von Präsident Eisenhower bei der Beseitigung von Lumumba eine Rolle gespielt. Zeit seines (politischen) Lebens hatte dieser gegen Kolonialismus und Imperialismus gekämpft. Als er an die Macht kam, war er der belgischen Kolonialmacht, dem Diktator Mobutu und den Ausbeutern der immensen Rohstoff- und Agrar-Ressourcen in seinem Land ein Dorn im Auge.

Sotiris Petroulas, ein Märtyrer der Linken im griechischen Widerstand, wurde gerade einmal 22 Jahre alt. Der Student fand 1965, also zwei Jahre vor der Machtergreifung der Obristen, im Anschluss an eine Demonstration durch eine Tränengasgranate der Polizei in Athen den Tod. Er gehörte früh einer linksgerichteten Jugendorganisation an. Seine Beerdigung wurde zum Fanal. Nach der Ermordung des Widerständlers im Bürgerkrieg, Friedenskämpfers und späteren Abgeordneten G. Lambrakis im Mai 1963 durch sehr wahrscheinlich beauftragte Rechtsradikale war Petroulas Aktivist in der Lambrakis-Jugend gewesen, die damals von M. Theodorakis angeführt wurde. Dieser hat Petroulas ein anrührendes Lied gleichen Namens gewidmet. In dem Roman Z (V. Vassilikos) bzw. in dem Film Z (Costa Gavras) werden die dramatischen Vorfälle von damals eindrücklich geschildert. Z steht für Ζεί = Er lebt.

Che Guevara war 39 Jahre, als er wenige Jahre nach dem Sieg der Revolution Kuba verließ und als Guerillero in den bolivianischen Anden in einen Hinterhalt geriet. Bereits verwundet wurde er schließlich gefangengenommen. In der Haft in dem abgelegenen Ort La Higuera wurde er 1967 nach wenigen Tagen von einem Feldwebel auf Befehl „von oben“ aus La Paz erschossen. In Kuba war er in der Anfangsphase der Revolution Industrieminister und Notenbankchef gewesen. Später zog es ihn in den Befreiungskampf nach Angola, in den Kongo und zuletzt nach Bolivien. Mit seinen antiimperialistischen Ideen stand der Argentinier und Ehrenkubaner Che Guevara, ein Arzt und Asthmatiker mit eiserner Disziplin, für Befreiung aus Armut und für tiefgehende soziale Gerechtigkeit in der damals so genannten Dritten Welt“ oder „Peripherie“. Er wurde weltweit zum Idol – auch der damaligen 68er. Wolf Biermann bezeichnete ihn in einem seiner früheren Lieder (9) mit einem ironischen Augenzwinkern als „Jesus Christus mit der Knarre“ (10).

Salvador Puig Antich wurde 1974 auf Befehl des Diktators General Franco mit der Garotte (Würgschraube) hingerichtet, die dabei in Spanien zum letzten Mal überhaupt zum Einsatz kam. Damals war der katalanische Anarchist (11), der, stimuliert durch die Revolten des Mai 68 in Frankreich, den Kampf im Untergrund gegen den Diktator aufgenommen hatte, 36 Jahre alt. Er gehörte der linksgerichteten Iberischen Befreiungsbewegung an. Bei einem Schusswechsel mit der Polizei wurde er schwer verletzt, verhaftet und dann zum Tode verurteilt. Wenige Monate nach dem Tod Puig Antichs starb der altersschwache und kranke Franco in einem wochenlangen Todeskampf. Die dritte Republik Spaniens kam in Gang und löste die lange Diktatur ab.

Elisabeth Käsemann war eine nach Argentinien übergesiedelte deutsche Staatsbürgerin. Sie wurde 1977 von Schergen der argentinischen Militärjunta, (30.000 Tote, darunter hundert Deutsche während der Diktatur), in einem Geheimgefängnis schwer gefoltert und dann durch Schüsse in den Rücken und ins Genick exekutiert. Die gut mit Rudi Dutschke bekannte Studentin der Sozialwissenschaften hatte sich unter dem Eindruck früherer Reiseerlebnisse vor Ort für einen radikalen Umbruch der Verhältnisse eingesetzt und war alsbald zu einer engagierten Gegnerin der brutalen Diktatur Videlas geworden. Käsemann gehörte diversen Gruppen des bewaffneten Widerstands an, ohne selbst zur Waffe gegriffen zu haben. Die Diktatur arbeitete bekanntlich mit den Methoden des Verschwindenlassens von missliebigen Personen. Auch im unmittelbaren Umfeld von Käsemann wuchs damals die Zahl der sog. „Desaparecidos“ (12). Die deutsche Diplomatie des Außenamts verhielt sich im Zusammenhang der möglichen Rettung der Inhaftierten und bei der Aufklärung ihres Todes zögerlich bis abwehrend. Einige Täter aus den Kreisen der Militärs wurden viele Jahre später immerhin verurteilt – in Argentinien und mit Bestätigung deutscher Gerichte.

Rudi Dutschke starb im gleichen Alter wie der „Che“, also mit 39, an den Langzeitfolgen des Attentats auf ihn in Berlin. Ein sichtlich aufgehetzter Mensch hatte auf ihn geschossen und getroffen. Dutschke erlitt schwere Hirnver-letzungen und hatte zeitweilig die Sprache und das Gedächtnis verloren. Über mehrere Jahre war er ein tapferer Rekonvaleszent. Die Tat hatte er dem Attentäter später in einem Brief verziehen, dieser sich daraufhin bei Dutschke entschuldigt. 1979 erlitt der Sozialist und Internationalist aus Brandenburg jedoch einen epileptischen Anfall beim Baden in der Wohnung in seiner dänischen Wahlheimat Aarhus und ertrank. Als charismatische Leitfigur und mitreißender Redner setzte Dutschke sich für eine weltweite demokratisch-sozialistische Revolution und zugleich eine Abkehr vom Leninismus ein. Zuletzt hatte er sich für kurze Zeit bei den „Grünen“ in deren Gründungsphase engagiert. „Sanft war er, sanft wie alle echten Radikalen“, sang damals Wolf Biermann bei der Beerdigung Dutschkes.

Thomas Sankara wurde 1987 mit 38 Jahren von Kugeln aus mehreren Schusswaffen durchsiebt. Drahtzieher des Mordes war möglicherweise der ihm nachgefolgte Präsident Blaise Campaoré, ein ehemaliger Freund und politischer Weggefährte. Sankara war der erste sozialistische Präsident von Obervolta (heute: Burkina Faso) und wird im Kontext des sog. Sankarismus manchmal als der „afrikanische Che“ interpretiert. Nach einer Serie von reaktionären Militärputschen hatte Oberst Sankara selbst die Macht im Land ergriffen und zügig einschneidende Reformen eingeleitet, darunter Projekte des sozialen Wohnungsbaus, Maßnahmen gegen die Desertifikation, eine Stärkung der Frauenrechte und eine Agrarreform zugunsten der burkinischen Bauern. Sankaras Witwe wartet seit nunmehr 36 Jahren auf volle Aufklärung der Umstände des Todes ihres Mannes. Ein umfangreicher Prozess wurde im Oktober 2021 eröffnet.

Marielle Franco wurde in Rio de Janeiro 2018 ermordet, als sie 39 Jahre alt war. Sie starb zusammen mit ihrem Fahrer, als ihr Auto beschossen wurde. Die Munition stammte wahrscheinlich aus dem Arsenal der brasilianischen Bundespolizei. Die Afrobrasilianierin kam aus armen Verhältnissen und verbrachte ihre Kindheit in einer Favela Rios. Während ihres späteren sozialwissenschaftlichen Studiums machte sie die üblen Zustände in den Armenvierteln und die gewalttätigen Eingriffe von Militär und Polizei bis hin zu extralegalen Hinrichtungen zu ihrem Thema. Sie hatte sich ab 2000 bei der sozialistischen Partei (PSOL) engagiert und war sechs Jahre später mit hohem Stimmenanteil zur Stadträtin gewählt worden. Im Vordergrund ihres Engagements standen die Polizeigewalt und die Rechte der Bewohner der Armenviertel, insbesondere die der Frauen und Schwarzen. Kurz vor ihrem Tode hatte die Feministin den amtierenden Präsidenten Temer öffentlich dafür kritisiert, dass er das Bundesmilitär in Rios Armenvierteln einsetzte. Der Mord wird bisher nur sehr schleppend von wechselndem Personal der Mordkommission untersucht.


Gedenken wir abschließend und stellvertretend der jungen Frauen und Männer, die seit dem 1. Februar 2021, dem Tag des neuerlichen Putsches in Myanmar,
im Widerstand gegen die Militärjunta ihres Landes ihr Leben gelassen haben. Viele von ihnen waren blutjung. 

Mit drei exemplarischen Porträts und der kurzen Schilderung einer persönlichen Begegnung möchte ich diese Erinnerungsblätter beschließen und zugleich altersmäßige Ausrufezeichen zum Phänomen des frühen, gewaltsamen Todes setzen – kontrapunktische Zeichen sozusagen, die aufscheinen lassen, dass in manchen Fällen selbst der umherschweifende Sensenmann in seiner zynischen Mordlustblödigkeit erlahmt. Sei das jeweilige lange Überleben einfach dem Zufall (gibt es ihn?), kluger Vorsicht, Warnungen im richtigen Moment oder schwer zu deutender Fügung geschuldet.

Ernesto Cardenal starb im Alter von 95 Jahren an Nierenversagen. Der frühere sandinistische Kulturminister war katholischer Priester und ein bekannter Dichter. Er hatte sich 1954 an einem ersten Aufstand gegen den Diktator Anastasio Somoza García beteiligt, der jedoch wegen Verrats scheiterte. Cardenal überlebte und ging alsbald ins Exil in die USA und nach Mexiko. Zurück in Nicaragua gründete er die urchristlich orientierte Solentiname-Kooperative auf der Insel Mancarrón im Nikaragua-See. Diese Gruppe besetzte alsbald zusammen mit lokalen Bauern eine nahe gelegene Militärkaserne. Das Militär übte Vergeltung, Cardenal entkam erneut ins Exil (Costa Rica). Bekannt ist sein weitgehend erfolgreicher Einsatz für eine „Revolution ohne Rache“, nachdem der Diktator Anastasio Somoza Debayle 1979 gestürzt worden war. Papst Johannes Paul II. suspendierte den Sandinisten 1985 jedoch von seinem Priesteramt, was erst 2019 durch Papst Franziskus rückgängig gemacht wurde. Den überzeugten „Sandinisten, Marxisten und Christen“ muss es zuletzt zutiefst verstört haben, dass unter dem ehemaligen Führer der FSLN-Befreiungsbewegung und Präsidenten Daniel Ortega und seiner Frau, der Vizepräsidentin, zunehmend ein autoritärer Führungsstil in seinem Land Einzug gehalten hat und politisch Abtrünnige und Gegner seither hart verfolgt werden. Auch Cardenal selbst wurde mehrmals massiv bedroht. In Deutschland ist er wegen seiner künstlerischen Auftritte und der langjährigen Kooperation mit dem ehemaligen TV-Multitalent Dietmar Schönherr bei der Realisierung eines wichtigen Kultur- und Entwicklungsprojekts vor Ort bekannt und beliebt. Die schier ewige Herrschaft des mächtigen Somoza-Clans seit 1937 mit diversen Unterbrechungen ist inzwischen immerhin Geschichte.

Rossana Rossanda starb 2020 im hohen Alter von 96 Jahren ohne Gewalteinwirkung in Rom. Die in Istrien geborene, auch von politischen Gegnern anerkannte Linksintellektuelle und Anhängerin von Rosa Luxemburg nahm zunächst als Kurierin im kommunistischen Untergrund am Widerstand gegen die Nazi-Okkupation in ihrem Land teil. Später war sie viele Jahre lang vor allem kulturpolitisch engagiertes Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens (KPI). Als sie deren zögerliche Haltung zur Lage in der damals immer noch (halb)stalinistisch geprägten Sowjetunion verwarf, wurde sie 1969 wegen „Linksabweichung“ aus der Partei ausgeschlossen. Ausschlaggebend waren hierbei ihre kritische Haltung gegenüber dem Einmarsch der Sowjetunion in der Tschechoslowakei 1968 und ihre Mitwirkung an der Gründung sowie als Journalistin der linkssozialistischen Gruppierung Il Manifesto, die vor allem als gesellschaftskritische Zeitung brillierte und mit der 68er Studentenbewegung liebäugelte. In späteren Jahren befasste sich Rossanda zunächst sehr kritisch, dann als – immer noch – „Randgängerin“ sympathisierend mit dem Feminismus sowie der sog. „Politik der Geschlechterdifferenz“. Von Rossanda stammt in einem Rückblick das kluge Fazit: „Die Sache des Kommunismus…ist so kläglich gescheitert, dass man sich unbedingt damit auseinandersetzen muss.“ (13) Ihrer Überzeugung vom Kommunismus als einer guten Idee ist sie bis zum Ende treu geblieben. Il Manifesto kann man heute immer noch lesen.

Mikis Theodorakis starb am 2. September 2021 im Alter von 96 Jahren friedlich in Athen. Er überlebte um viele Dekaden alles, was man ihm in seiner ersten Lebenshälfte angetan hatte: Inhaftierung, bittere Haftzeiten, mehrmalige Verbannung und Folter, Vertreibung ins Exil. Nach seinem vierjährigen Aufenthalt in Frankreich kehrte er in seine Heimat zurück und wurde triumphal empfangen. Die Obristen hatten abgedankt. Er gab 1974 ein legendäres Konzert in Athen, das filmisch unter dem Titel „Die Zeit ist für die Lieder und gegen die Panzer“ aufgezeichnet wurde. Das Video ging damals um die Welt. Zuletzt jedoch musste der hoch betagte Theodorakis sich, im Rollstuhl sitzend, auf einer Manifestation in der griechischen Hauptstadt noch einmal vor dem Tränengas der Polizei schützen. Der Komponist aus Chios hatte sich früh gegen die Nazi-Okkupation und im griechischen Bürgerkrieg auf Seiten der Linken engagiert. Er war Mitglied der Nationalen Befreiungsfront EAM, führte die Lambrakis-Jugend an, war Abgeordneter der kommunistischen Partei (KKE) und später der Vereinigten Demokratischen Linken (EDA). Für kurze Zeit war er sogar Minister für besondere Aufgaben in der konservativen Regierung Mitsotakis (Vater). Theodorakis komponierte und dirigierte unentwegt, bisweilen sang und tanzte er auch auf der Bühne. Seine Musik – die Lieder, die Oratorien, die Symphonien – ist ein leidenschaftliches Plädoyer für ein erneuertes Griechentum („Romiosini“) in einem besseren Europa. Sein turbulentes Leben bestand bis zum Ende aus Musik, seinen Kompositionen und Konzerten, sowie seiner entschlossenen Parteinahme für ein einträchtiges und stolzes Griechenland in wohlverstandenem Sinne. Er hoffte auf eine bessere Welt und verlieh ihr unbeirrt und frei von Hass exemplarisch Ausdruck. IHN, diesen Künstler des Unentwegten, verehre ich mit Freude.

Spes ultima dea est!

Eine persönliche Begegnung

Leoncio Bueno Román lernte ich 1979 in Comas, einem nördlich gelegenen, sehr sandigem Vorort von Lima, kennen. Ich besuchte ihn auch in seiner Kfz-Werkstatt El Túngar im zentralen Stadtbezirk Breña, wo er zwischen Schmierstoffen, Lackdosen und Schläuchen viele Jahre lang Autos reparierte. An einer Wand in der Werkstatt entdeckte ich damals ein schon speckiges Regal mit Werken von Mariátegui, Martí und über Trotzki, von Neruda, Vallejo und Verlaine. So in etwa. Ich hatte mit dem lebensfrohen Autodidakten über seinen Sohn, der mir in Deutschland Spanisch beigebracht hatte, Kontakt aufgenommen. Damals war ich dreißig und Leoncio fast sechzig Jahre alt. Er hatte bereits ein sehr bewegtes politisches und aktivistisches Leben hinter sich. 1948 war er Co-Gründer des trotzkistischen Grupo Obrero Marxista gewesen, hatte früh an den Landnahmen der Pampas von Comas durch Binnen-Migranten/innen aus dem Hochland teilgenommen und ab 1961 war er eine Zeit lang in der militanten Brigade Tupac Amaru in Cusco, der alten Inka-Hauptstadt in den Hochanden, aktiv gewesen. Wegen „Anstiftung zur Konspiration“ gegen den Diktator Manuel Odría durchlitt er vier Jahre auf der Gefängnisinsel El Frontón in Haft. 1981 wurde er zum Dreh einer kurzen Szene in dem Film „Fitzcarraldo“ des Regisseurs Werner Herzog eingeladen. Er nahm an, spielte einen Kommissar in der nordperuanischen Urwaldstadt Iquitos und traf damals am wilden Set auf einen durchgeknallten Klaus Kinski, den quirligen Mick Jagger (14) und die unerschrockene Claudia Cardinale. Der „Poet der Sandgrube“ (poeta del arenal), wie man ihn nennt, betätigte sich auch journalistisch und verfasste im Laufe seines Lebens zahlreiche Lyrik-Anthologien sowie seine Autobiografie. 2016 erhielt er nach einer Serie von früheren Auszeichnungen den „Premio Casa de la Literatura Peruana“. Leoncio Bueno Román, der viele Söhne bzw. Töchter und zahlreiche Enkel/innen hat, lebt heute im Süden von Lima und wurde am 2. Januar 2020 einhundert Jahre alt.


Hinweis zum Titel: Erinnerungsblätter. Das Wort – im Singular – wird Blaise Pascal zugeschrieben, der ein Erinnerungsblatt immer bei sich getragen haben soll (mit philosophischen Inhalten).

Fußnoten

(1) Fast schon überflüssig festzustellen, dass in den vorliegenden Erinnerungsblättern natürlich nicht nur von Kommunisten/innen die Rede ist.
(2) Es geht mir nicht um eine Auswahl, die sich ausschließlich an der vorhandenen weltgeschichtlichen Bedeutsamkeit des Wirkens der Personen orientiert. Die Auswahl ist zudem ideologieübergreifend angelegt. Sie erhebt den Anspruch, erst einmal phänomenologisch konzipiert zu sein. Fern des sprichwörtlichen „Lagerdenkens“.
(3) Thronfolger im späten Mittelalter (hier der spätere Karl VII.)
(4) Danton hatte als Justizminister allerdings die sog. Septembermorde an tausenden gefangenen Kriminellen und aktiven Royalisten zunächst geduldet. Insoweit muss seine Aufnahme hier in das Erinnerungsblatt mit einem Fragezeichen versehen werden. Siehe hierzu auch: Georg Büchner, Dantons Tod (Drama)
(5) Eine Erzählung des Autors über ihr verdichtetes und bewegtes Leben als Freiheitskämpferin und Mutter ist in Arbeit (Erscheinungsdatum noch offen).
(6) Die Einheitsgemeinde BUDA-PEST, also Budapest, wurde erst 1873 gegründet.
(7) siehe hierzu auch meine Erzählung „Der erleuchtete Augenkundler“
(8) Unter der Führung des sandinistischen Präsidenten-Ehepaars Ortega-Murillo mit zeitweiliger „good governance“ mutiert Nikaragua seit ein paar Jahren mehr und mehr zu einer Autokratie. Die Schriftstellerin und Feministin Gioconda Belli, selbst eine Kämpferin der ersten Stunde gegen Diktator Somoza, spricht von„machiavellistischen Machtstrukturen“ (11/2021 spiegel.de, Interview).
(9) Das Che Guevara-Lied, Biermanns feinfühlige Interpretation des Songs „Hasta Siempre, Comandante“ von Carlos Puebla (Kuba)
(10) Auch Che Guevara (ähnlich wie Danton) wurden und werden Vorwürfe gemacht, dass er gemeinsam mit Fidel Castro nach dem Sieg der Revolution Folterer und Schergen Batistas in Schnellverfahren habe aburteilen und hinrichten lassen. Dies bedarf m.E. immer noch einer sorgsamen Prüfung und Bewertung unter ethischen Gesichtspunkten jenseits von Polemik. Siehe hierzu auch: Hans Magnus Enzensberger, Das Verhör von Habana, edition Suhrkamp 1970. Der Fall liegt etwas anders als bei Danton.
(11) Anarchismus, häufig als bloßer Terror missverstanden, ist eine Ideologie bzw. Utopie der völligen Herrschaftsfreiheit und Freiheit von institutioneller Bevormundung. In Spanien setzte sich phasenweise ein militanter Anarchismus bzw. Anarchosyndikalismus durch.
(12) Verschwundene, die oftmals über dem Meer aus Flugzeugen abgeworfen wurden.
(13) R. Rossanda, Die Tochter des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, Suhrkamp 2007, Seite 7
(14) Mick Jaggers wegen einer anstehenden Welttournee unvollendete Drehpassagen wurden später aus dem Film herausgeschnitten. Bei den aus ethischen Gründen in der Öffentlichkeit umstrittenen Aufnahmen war die Stimmung oft sehr geladen und es wurden mehrere einheimische Laiendarsteller verletzt.

Quellen
Einschlägige Biografien und Berichte aus meiner eigenen Bibliothek
Informationen und Erkenntnisse aus den Besuchen diverser musealer Einrichtungen, Gedenkstätten und Konzerte weltweit, z.B. in Rom, Lima, Havanna, Mexico City, Paris, Athen, Berlin, Heidelberg-Wilhelmsfeld, u.a.
Aufenthalte in Lima, Iquitos und Cusco (Peru)
Vier Treffen mit Leoncio Bueno Román in Lima, 1979 bis 2005
Film Fitzcarraldo von Werner Herzog, Peru/Deutschland 1982

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