Europinas Leid

E

Europa, die Tochter eines phönizischen Königspaars, die den Namen ihres geliebten Kontinents trug, fühlte sich noch nicht alt, war aber doch schon in die Jahre gekommen, wenn man dies so sagen kann. Ihre drei Kinder Minos, Rhadamanthys und Sarpedon waren längst erwachsen und in die weite Welt hinausgezogen. Sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihnen. Die Moiren wollten es so. Und der verehelichte Zeus, mit dem sie dereinst wie ein ausgestiegenes Hippie-Paar zusammengelebt hatte, nachdem er sie entführt und sich auf Kreta von einem Stier in den früheren obersten Gott zurückverwandelt hatte, war längst von Matala, einem malerischen Strandörtchen, auf den Olymp, den Hausberg der Gottheiten, zu seiner Gemahlin zurückgekehrt. Ein entzückendes, kleines Geschenk hatte er Europa hinterlas- sen, das sie fortan auf ihren Wegen begleiten sollte. Seine Vaterpflichten hatte er seit eh und je vernachlässigt. Seine Gattin Hera hatte sich längst beruhigt und ihre Eifersucht, ja ihren damaligen Zorn, mit der Zeit einfach vergessen. Sie waren wieder ein Paar. Europa ahnte jedoch, dass er aus seiner Zurückgezogenheit die ehemalige Geliebte, seine Söhne und auch den Kontinent, der von Kreta bis weit in den Westen und Norden zu einem einheitlichen Menschengebiet angewachsen war, interessiert, gewiss auch argwöhnisch und manchmal belustigt, wie es seine Art war, beobachtete. Er pflegte dies vom Mytikas aus zu tun, dem fast dreitausend Meter hohen Gipfel des lichterfüllten Olymps, von wo er eine geradezu phantastische Aussicht hatte.

Nun kommt Ihr kaum noch zu mir empor, aber ich sehe zu Euch hinunter
Ihr ziehet Lourdes oder Fatima vor, als vertrautet Ihr auf Wunder
.

So also konnte sich der ihr anvertraute Kontinent, weitgehend auf sich gestellt, in Ruhe zu einem humanen Projekt entwickeln, wie es die Menschheit bisher nicht gekannt hatte. Jedenfalls hätte es so kommen sollen und können. Aber nun fühlte sich Europa, die nach der langen Affäre mit Zeus auf Kreta den König Asterios geheiratet hatte, schrecklich verlassen. Denn Asterios war früh gestorben, und sie war eine Zeitlang als Regentin alleine für Kreta zuständig gewesen. Die Männer, seien es Menschen oder veritable Götter, suchten in jenen Zeiten gerne das Weite, sie waren Jäger und Abenteurer, lebten exzessiv, auch und gerade in amourösen Dingen. Heute mag sich dieses Bild etwas verschoben haben, dachte sie. Und da sie nicht groß auf ihre Gesundheit achten, sterben sie auch früher, sich herzschwach aus dem Staub machend. Diesbezüglich hat sich wohl kaum etwas geändert. Auch Odysseus war ja ein solcher Verschwindensfall gewesen, und es hatte sehr lange gedauert, bis der es wieder in heimische Gefilde auf Ithaka zu seiner Penelope geschafft hatte. Sie selbst, Europa, hatte es nach dem Tod ihres kretischen Gatten nicht mehr allzu lange auf der großen Insel im Südosten des Landes gehalten, die einst zur minoischen Kultur gehört hatte. Dies obwohl Europa den lokalen Künsten stark zugeneigt war und sich, von Kreta ausgehend, eine musikalische Kultur entwickelt hatte, die einmalig war und sich wie ein Göttergeschenk in ganz Hellas, ja weit darüber hinaus ausgebreitet hatte. Immer wieder gerne hörte sie dieses stolze, das Griechentum besingende Lied Romiossini, das viel später zum Widerstandslied gegen dunkle Mächte wurde, die Neu-Griechenland bedrohten, oder dieses einfühlsame Poem von Giorgios Seferis, einem neuzeitlichen, sehr bekannten Lyriker:

Der Schlaf hüllte Dich ein. Und mit grünenden Blättern atmetest Du.
Verschlossen die Lider. Und Deine Wimpern streiften am Wasser entlang.

Sie wollte nicht länger in der Peripherie ihres Kontinents verweilen und suchte sich einen zentraleren Ort als Wohnsitz, um sich kraft der ihr innewohnenden Magie einen besseren Überblick zu verschaffen. Schließlich empfand sie als Schutzherrin Europas Verantwortung. Man könnte es vielleicht so deuten: Indem sie Europas Mitte aufsuchte, trachtete sie auch danach, ihre eigene Mitte zu finden. Dabei musste sie feststellen, dass das geografische Zentrum Europas beileibe nicht statisch war, sondern sich in dem Maße verschob, wie das offiziöse Europa schrumpfte oder expandierte. Anders als der für immer fixiert platzierte Olymp. So lebte sie nun nach Ewigkeiten des Umherirrens und Suchens innerhalb relativ kurzer Zeit, diesem Phänomen folgend, eine Weile in der wallonischen Ortschaft Viroinval, dann eine Zeitlang in Kleinmaischeid bei Neuwied und schließlich im hessischen Gelnhausen. Mit feiner, innerer Ironie bemerkte sie, dass sie auf ihrer fast manischen Mittelpunktsuche eine Migrantin nach Deutschland geworden war, denn auch das allerneueste Zent- rum Europas verblieb vorerst in Deutschland, nämlich im Landkreis Aschaffenburg. Eigentlich war sie recht froh über diese häufigen Wohnsitzwechsel, denn die jeweiligen Ortschaften versprachen ihr nur wenig Ablenkung. Es waren ziemlich langweilige Dörfer, die man nach einer Weile eher satt hatte. Zugleich war sie jedoch besorgt, wie rasch Europa in letzter Zeit wieder zu Expansion tendierte. Ob das am Ende gut geht? Auch das Römische Reich, das Imperium Romanum, hatte seinen Niedergang im Westen selbst erzeugt, indem es allzu euphorisch bis zum Balkan und der Donau vorgedrungen war, dachte sie. Die Hunnen, vor allem die, hatten dann ja der römischen Hybris ein Ende gemacht. Und übrig geblieben war ein fragiler Stiefel namens Italien. All dies hatte sie selbst in klarer Anschauung erlebt. Es war so gewesen.

Nun lebte sie also schon eine Weile in der unterfränkischen Gemeinde Westerngrund im Ortsteil Oberwestern, mit nicht einmal zweitausend Einwohnern. Am Rand ihres Stadtteils war das exakte, neue geografische Zentrum Europas mit einer großen Fahne auf einer Wiese markiert worden und somit deutlich sichtbar. Es lag immer etwas feuchter Graunebel über diesem seltsamen Biotop.

Mit den Bürgern und Bürgerinnen von Westerngrund verstand sie sich passabel, zumal sie längst die Deutsche Sprache beherrschte und sogar auf Fränkisch zu kommunizieren wusste. Sie kam mit der vereinsmeierischen Geselligkeit der Menschen dort erstaunlich gut zurecht, mit diesen dionysischen Frankenrunden, wenn man gemeinsam in der Kneipe vom Bocksbeutel trank und das traditionelle Schäufela, einen knackigen Braten aus der Schweineschulter, verzehrte.

Aber wie lange würde sie hier bleiben, fragte sie sich. Eine weitere Umsiedelung und zwar diesmal nach Veitshöchstheim bei Würzburg deutete sich ja bereits an, denn im äußersten Westen Europas, das inzwischen mehr als eine halbe Milliarde Einwohner umfasste, war es vor kurzem zu einer aufsehenerregenden Entscheidung gekommen. Die insularen Engländer hatten sich qua Volksabstimmung vom Kontinent losgesagt und sahen nun nicht mehr zu Zeus oder Jupiter auf, sondern eigentlich zu niemandem mehr. Vielleicht noch am ehesten zu dem merkwürdigen, neuen amerikanischen Präsidenten, einer Trumpfkarte aller weltweiten Waffennarren, dessen Vorfahren aus der lieblichen, südwestdeutschen Pfalz stammten. Und auch ihr geliebtes Griechenland, das bei allen Schwächen in den anti- ken Zeiten, man denke nur an das Missverhältnis zwischen Periöken und Heloten, immer noch als Wiege der humanistisch-demokratischen Kultur pro Europa galt, war vor kurzem in höchster Not drauf und dran gewesen, mit diesem Europa zu brechen, das bloß Geld, Kredite und Eurobonds als Klebstoff für den Zusammenhalt im Sinn hatte. Ein Zusammenhalt, der längst wieder gewaltige Bruchstellen aufwies, die kaum noch kittbar schienen.

Ja, sie war in die Jahre gekommen und machte sich Sorgen. Ihr Alter, das eigentlich nicht zu bemessen war, da ihr in der Umarmung einer heftigen Liebesnacht damals auf Kreta Zeus in großzügiger Manier eine gewisse Zeitlosigkeit eingehaucht hatte, wodurch sie zu einer Art Halbgöttin avanciert war, machte ihr dabei weniger Sorgen, viel mehr schon der Zustand des Kontinents Europa. Hatten diese Europäer, allen voran die Bewohner ihrer neuen Heimat, die ja schon zwei gewaltige Kriege mit unzähligen Opfern inszeniert hatten (von früheren Zeiten erst gar nicht zu reden), noch immer nichts gelernt? Hatten sie noch immer nicht begriffen, dass ihre doch auch vorhandene Rest-Humanität letztlich nur dann überleben kann, wenn auch anderen Völkern ein zuträgliches Leben ermöglicht wird? Diese Rasanz der technologischen Entwicklung, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, dieses Geifern nach falsch verstandener Leitkultur, der unfaire Handel, diese Gier nach Reichtum und Expansion und zugleich die weit verbreitete Furcht vor dem Fremden zu Hause waren ihr unerträglich. All dies stellte eine riesige Gefahr dar, dachte sie. Was also tun? Konnte sie überhaupt etwas tun? Das Jahr über brutale Spekulation, an Weihnachten dann frömmelnde Spekulatius, erregte sie sich etwas künstlich spöttelnd und sehr assoziativ, als sie an die Bankenkrise denken musste, die vor einiger Zeit auch Europa erfasst hatte. Sie spürte, ohne in den Spiegel zu blicken, wie ihr die Gesichtszüge etwas entgleisten.

Europa fühlte sich verloren und allein gelassen. Ihre Rolle, die sie dereinst sehr klar gesehen hatte, nämlich Mutter Europas zu sein, war ihr abhandengekommen, wenngleich sie keinerlei Missgunst gegenüber einer nun schon länger in Deutschland regierenden Frau verspürte, der manchmal gewisse mütterliche Qualitäten in Bezug auf die Gesellschaft zugeschrieben wurden und die mit wenig Gespür für Sinnlichkeit, aber einer seltsamen Symbolgestik der Hände, einer Figur, die früher auch beim Kirchendächerbau zum Einsatz kam, Politik machte. Ihr Fall war dies jedenfalls nicht.

Manchmal, wenn Europa unterwegs war, was eher selten vorkam, klopften die in Mode gekommenen digitalen Klingeltöne seltsam agiler Geräte, die die Menschen ständig bei sich hatten und die nicht einmal die Größe und das Gewicht einer vollen Brieftasche erreichten, wie kleine Hämmer in ihrem Kopf und verdrängten die Schönheit der von den Musen Euterpia und Polyhymnia inspirierten Musik, die sie so gerne im Ohr hatte. So hatte dereinst der griechische Lyriker Jannis Ritsos in seiner „Lobpreisung“ (Axion Esti) gesungen, und das war gar nicht so lange her.

Gepriesen sei der schmucklose Holztisch. Gold ́ner Wein mit dem Mal der Sonne.
Spiele des Wassers auf spiegelnder Decke. Schlaflos im Eck blätt ́riger Philodendron.

Sie sehnte sich sehr nach diesen Klängen, dem Duft dieser sehr ursprünglichen Verse.

Die neuen Menschen, die sie vorfand, glaubten an Bits und Bytes, goutierten Klopfgesänge wie Morsezeichen. Babylonische Kommunikationsverwirrung! Was mochte ihr früherer Geliebter, an den sie sich manchmal sehnsüchtig erinnerte, darüber denken, der große, halt flegelhafte Zeus? Auch ertrug sie es immer weniger, die Europa-Hymne beziehungsweise die Deutsche Hymne noch zu hören, die regelmäßig zum Tageswechsel im Radio gespielt wurden. Mit dieser machtvollen Rauschmusik konnte sie nichts mehr anfangen, wenngleich sie die Werke von Beethoven und auch Haydn durchaus schätzte, besonders die Lieder.

Einsam wandelt Dein Freund im Frühlingsgarten. Mild vom lieblichen Zauberlicht umflossen, das durch wankende Blütenzweige zittert, Adelaide!

Immer wieder plagten sie heftige Kopfschmerzen und sie entdeckte mit Verzweiflung, dass sie das Lachen, das Lächeln, die erträgliche Leichtigkeit des Seins zu verlieren drohte. Waren dies Depressionen, die sich dergestalt ankündigten? Europa musste auf sich aufpassen. Ihr deutscher Lieblingsdichter Hölderlin der sich mit „Hyperion“ ein Europa als einen gotterfüllten Naturraum erdacht hatte, wurde gerne mit dem philosophischen Hinweis zitiert, dass das Rettende (gerade) auch dort wachse, wo Gefahr sei. Aber sie konnte den großen Rettungsring erst einmal nirgends ausmachen. War nicht auch Hölderlin am Ende dem Wahnsinn verfallen in seinem Turmzimmer? Und ist nicht Hyperion, von deutschen Landen angewidert, nach Griechenland zurückkehrt? Bin ich, dachte sie, eine noch lebende Diotima, während sie ihr erstaunlich gülden gewordenes Haar vor dem Spiegel mehrmals glatt strich?

Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen,
Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,

April und Mai und Julius sind ferne
Ich bin nichts mehr; ich lebe nicht mehr gerne.

Mit Interesse hatte sie wahrgenommen, dass eine Mutter von sieben Kindern und Ärztin von Beruf schon seit einer ganzen Weile als Ministerin der deutschen Soldateska vorstand, was sie in gewisser Weise an ihre frühere Rivalin vom Olymp erinnerte. Ach, diese Germanen und … Germaninnen! All dieses Kriegerische, dieses zum Kriege Rüstende inmitten der materialisierten Zivilität der Konsumgesellschaft! Allenthalben immer mehr Waffengeklirr, früher nannte man es Säbelrasseln, sie hatte es damals schon erlebt, es war schrecklich gewesen. Ja, sie musste und sie beschloss, auf sich aufzupassen … und womöglich zu handeln. Und nostalgisch kamen ihr erneut Hölderlins Zeilen in den Sinn, namentlich Hyperion an den deutschen Freund Bellarmin:

Da flogen wir, Diotima und ich,
da wanderten wir wie Schwalben
von einem Frühling der Welt zum anderen,
durch der Sonne weites Gebiet und drüber hinaus,

zu den anderen Inseln des Himmels

Europa trug ihren geliebten Kontinent wahrlich immer noch im Herzen, aber er war ihr arg belastend zu Kopf gestiegen und drückte beständig auf ihr Nervenkostüm. Zweimal war er im Weltkrieg böse explodiert, stand nun eine gewaltige Implosion bevor, während zugleich aschfahle Rachekrieger Europa von außen mit gezielten Nadelstichen den Garaus machen wollten? Muselmanen, wie dereinst! Assassinen! Aus den Kopfschmerzen der Halbgöttin war über die Jahre eine chronische Erscheinung geworden, und so trat sie eines Tages doch den Weg zu einem weltlichen Arzt an, statt wie bisher auf ihre magischen Selbstheilungskräfte zu vertrauen oder hoffnungsvoll ihr Orakel zu befragen.

Nicht lange war es her, dass sich ein junger Arzt in Westerngrund angesiedelt hatte, der sich auf die Behandlung körperlich-seelischer Leiden verstand, also nicht ausschließlich den Körper in den Blick nahm, wenn dem Patienten der Schmerz oder gar die Verzweiflung das Gesicht presste. Einen Allgemeinarzt dieses Typs hatte es bisher in der Gemeinde, die einen goldenen Löwen in ihrem Wappen trägt, nicht gegeben. Er konnte sich wegen seiner Tüchtigkeit, seiner ganzheitlichen Herangehensweise im Heilungsprozess und auch seiner guten Kontaktezu einer umliegenden Klinik schnell ein hohes Prestige, ein gutes Image in der Ort- schaft erarbeiten. Sichtlich war er ein Jünger des Asklepios, auch wenn er sich nicht durch einen Stab, den eine Natter umringelt, auszuweisen pflegte. Man meinte zu spüren, dass er die Heilkunst sehr ernst nahm, ja dass sie ihm sein tiefstes Anliegen war.

Den letzten Anstoß, diesen Arzt nun aufzusuchen, gab es, als Europa, während sie mitten im heißen Sommer wieder einmal die Fenster ihrer Wohnung verschloss, um einen ihr nicht erklärlichen, sehr unangenehmen Verwesungsgeruch, der neuerdings immer häufiger von ganz draußen, von irgendwo- her einkam, am Eindringen zu hindern, beinahe hingefallen wäre. Sie hatte für Momente ziemlich das Gleichgewicht verloren, und der Taumel war heftiger als jener Lagerungsschwindel, mit dem sie vor Monaten einmal bei ihrem letzten Umzug für eine Weile zu kämpfen gehabt hatte. Dass sie sehr sensibel war, wusste sie, aber was hatten ihre Schwindelanfälle und die Kopfschmerzen damit zu tun? Sie wollte den Arzt um Rat fragen.

Nach mehreren Besuchen in der Praxis des Allgemeinarztes Dr. Berg, in deren Folge es in eher geringem Umfang zu periodischen Einnahmen ausgleichender, jedoch maßvoll wirksamer Medikamente kam, hatte sie Vertrauen zu ihm gefasst, zumal für eine Weile Besserung eingetreten war. Dem aufmerksamen Doktor war jedoch schon früh aufgefallen, dass diese seltsame Patientin, die ihm ein bisschen wie aus der Welt gefallen vorkam, an etwas litt, was er trotz seiner psychosomatischen Kompetenz nicht einordnen konnte. Symptome einer besonderen Art von Schwermut, die aber nicht mit irgendeiner Form von Depression zu korrelieren schien. Europa hieß sie also, sagte er sich, und manchmal musste er bei sich kichern, wenn er das Symptom in seiner Ratlosigkeit gedanklich improvisierend als „europäische Krankheit“ titulierte. Wer war diese Frau, die man im Dorf nur über vereinzelte, gesellige Frankenrunden im Restaurant zum Goldenen Löwen kannte, an denen manchmal inzwischen auch der Doktor teilnahm, und die sich immer schnell zurückzog, schier unnahbar schien und von der man eigentlich auch nicht wusste, was sie den lieben langen Tag so tat.

Bei einem neuerlichen Besuch der Patientin sprach Dr. Berg – er hatte sich extra viel Zeit genommen – ausführlicher mit ihr über seine ärztlichen Beobachtungen, ohne dass er eine belastbare Diagnose hätte liefern können, und sie bestätigte ihm überraschend klar und schnell, ja fast hektisch die Übereinstimmung mit seinen Annahmen und seiner Anamnese, ohne sich auf nähere Gespräche einzulassen. Berg sah nun den Zeitpunkt gekommen, seiner Patientin einen weitergehenden Vorschlag zu machen. Er bot ihr nach Abklärung der Ergebnisse der körperlichen Diagnostik an, eine Einweisung für einen Kurzaufenthalt in einer bekannten Klinik auszustellen, die neben verschiedenen Fachabteilungen auch die Heilkunst der Psychosomatischen Medizin in ihrem Angebot hatte. Es handelte sich um diejenige traditi- onsreiche Klinik, zu der Dr. Berg bereits aus seiner früheren Arbeit dortselbst noch gute Kontakte hielt und die nur knapp hundert km von Westerngrund in südlicher Richtung entfernt lag, eine Art Sanatorium. Es sei kein schwerer Befund gegeben, das Blutbild sei ausgewogen, alle Ergebnisse ohne pathologischen Befund, aber man könne ja wegen des Schwindels und der Migräne, auch wenn diese Symptome nachgelassen hätten, und auch wegen des gene- rellen Wohlbefindens einmal genauer nachsehen. Zwei bis drei Tage, das sollte genügen, befand Dr. Berg. Zu seiner Überraschung willigte Europa sofort ein, so als hätte sie den Vorschlag bereits erwartet.

Sie verabschiedete sich von dem Arzt, traf zu Hause rasch einige Vorkehrungen, packte ihre Tasche und machte sich schon am Folgetag auf den Weg zu besagter Klinik, wo Dr. Berg sie inzwischen angemeldet hatte.

Die Regionalbahn, in der es angenehm kühl war, durchmaß fast lautlos die Mitte Europas im weiteren Sinne und schwebte geradezu über die milde Hügellandschaft mit ihren grünen und gelben Sommerwiesen.

Innen war vor allem Schweigen, und die Stille wurde nur vereinzelt von Smartphone-Tönen unterbrochen bzw. von der sonoren Franken-Stimme des Fahrers, der über Lautsprecher den jeweils nächsten Halt der Bahn ankündigte. Sie nahm die Zeitung, die auf der Sitzbank gegenüber liegengelassen worden war: die Fränkischen Nachrichten. Die Schlagzeilen machten die Musik beim Lesen: „Hacker-Attacke legt Bahnanzeigen, Automaten und Kliniken lahm.“ Hoffentlich nicht auch die, die sie gerade aufsuchen wollte, argwöhnte Europa. „Atemlos durch die Ouzo-Nacht.“ Hierbei handelte es sich um den schwärmerischen Bericht über einen Kurztrip auf die Insel Kos, bei dem eine Reisegruppe zum Ouzo Helene Fischers bekanntes Lied gesungen hatte. War das alles, dachte sie. Und: „Deutschland bleibt ESC-Schlusslicht“. Beim Eurovision Song Contest hatte ein junger Portugiese mit großem Punkteabstand gewonnen. Ganz Europa, sogar Israel und Zypern, hatte abgestimmt. Sie hatte das Lied „Amar Pelos Dois“, das die TV-Moderatorin magisch nannte, am Vorabend gehört. Zusammen lieben, lieben für beide. In dem Song geht es darum, dass SIE IHN nicht mehr liebt und er sagt, das wäre egal. Denn seine Liebe wäre so groß, dass es für beide reichte. Das Lied hatte ihr gefallen, Melodie, Text und Vortrag. Nun war sie müde geworden und döste nur noch vor sich hin.

Es war bereits später Nachmittag, als der Zuglautsprecher „Boxberg, Ausstieg in Fahrtrichtung links“ rief. Sie nahm ihr Gepäck und stieg wie ferngesteuert aus, um sogleich den kurzen Fußweg zur Klinik anzutreten, den man ihr beschrieben hatte. Keine Seele weit und breit! Es ging eine Weile sachte bergauf, sie lief an ein paar gleichförmigen Villen vorbei, die den Eindruck von Leblosigkeit, ja Verlassenheit vermittelten, dann, an einer langen Wiese vorbeikommend, sah sie schon von Weitem das 5-stöckige, weiß strahlende und imposant aufragende Gebäude der Klinik am Ende der Sackgasse, das trotz des hellen Anstrichs letztlich merkwürdig düster wirkte. Sie konnte sich dies nicht erklären. Als sie etwas näher kam, entdeckte sie am Portal ein Schild aus Marmor, auf dem in großen Lettern stand: „Privatsanatorium Prof. Dr. Dr. Rüdiger Hunds“.

Es sei an dieser Stelle vermerkt, dass just in der Geburtsstation dieser Klinik, die früher symbolträchtig direkt über der Totenhalle lag, der Autor des vorliegenden Berichts am 19. November 1949 so um 5 Uhr früh das Kunstlicht der Welt erblickt und in seinen ersten Babytagen dort eine sehr aufmerksame, ja tadellose Betreuung erhalten hatte, wie ihm später berichtet worden war.

Europa, nennen wir sie jetzt am besten Europina, um einer sprachlichen Verwechslung mit dem gleichnamigen Kontinent nicht weiter Vorschub zu leisten, drückte die schwere Doppelglastür auf, trat ein und ging direkt auf die wenige Meter entfernte Rezeption zu, wo sie sogleich registriert und von einer älteren Dame in grauer Robe freundlich empfangen wurde. Ihr wurde ein Zimmer im obersten Stockwerk, also dem fünften, zugewiesen, wo die leichteren Patientenfälle untergebracht zu werden pflegten, wie es hieß. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl hinauf, öffnete die Zimmertür, trat in den modern ausgestatteten Raum und richtete sich kurz darin ein, bevor sie sich ermattet auf das frisch gemachte Bett legte und sofort einschlief. Als sie erwachte, war es draußen bereits dunkel und ein fast vollständig runder Vollmond spähte zu ihr ins Zimmer her- ein, wie um ihr Gesellschaft zu leisten. Sie dachte unwillkürlich an die Dichterin Sappho aus ihrer Heimat, die auch zehnte Muse genannt wurde, und deren berühmtes, nur fragmentarisch erhaltenes Gedicht, in dem der Mond bereits sein Nachtwerk verrichtet hatte. Morgen, bei neuer Tageshelligkeit, würde sich das Ärzteteam ihrer annehmen. Brauchte sie solche Fürsorge denn überhaupt? Bin ich am richtigen Ort, fragte sie sich. Zwei, drei Tage, hatte Dr. Berg gesagt.

Untergegangen der Mond und das Siebengestirn. Mitten in Nächten – verrinnt die Stunde:
Ich aber liege allein
.

Europina erwachte am Tag darauf infolge eines dumpfen Schlags, genauer: eines mehrmaligen Rumpelns, das sie hörte, aber nicht einzuordnen vermochte. Es folgte ein kurzer Schrei. All dies kam aus dem Stockwerk unterhalb ihrer Etage, aus dem vierten. Sie maß dem keine weitere Bedeutung zu, es hatte ihr ja niemand auf den Kopf geschlagen, und es war sowieso Zeit, den Tag zu beginnen, ihren ersten Behandlungstag. Sie sah aus dem Fenster, der freundliche Mond war längst verschwunden, aber die Sonne hielt sich noch zurück. Sie erhob sich aus dem Bett, in dem sie recht gut geruht hatte und machte sich mit Akribie zurecht. Bald würde es Frühstück geben und dann würde sie das erste ärztliche Gespräch zu absolvieren haben. Auf dem Tischchen in ihrem Zimmer lag ein Prospekt, in dem ihre Station Nr. 5 beschrieben wurde: Das zuständige Personal, die Räume und Apparaturen, beigefügt war ein einfacher Lageplan. Der Behandlungsraum lag nur wenige Schritte von ihrem Krankenzimmer entfernt, ebenso in die Gegenrichtung der Frühstückraum. Auf dieser Station der leichten Fälle wurde das Frühstück nur in Ausnahmefällen ans Bett gebracht.

Als sie gerade die Tür öffnen wollte, um ihr Zimmer zu verlassen, klingelte das Telefon. Am Apparat war jemand von der Rezeption, der sich zunächst einmal für die Störung, die keine war, entschuldigte. Diesmal war es der Stimme nach ein junger Mann, der ihr mitteilte, dass es eine kleine Änderung im Ablauf geben würde. Er bitte um ihr Verständnis. Das Personal von Station 5 sei heute qua höherer Gewalt stark dezimiert. Man habe gerade die Information erhalten, dass einer der beiden Stationsärzte erkrankt sei und auch eine Assistenzärztin nicht zum Dienst erschienen war. Das Behandlungsteam 5 sei nun nicht in der Lage, die im Fall Europina geplanten Untersuchungen angemessen durchzuführen. Dies alles sei jedoch kein größeres Problem, denn es stünde ein anderes Ärzteteam zur Verfügung, das ebenso kompetent sei und sogar bei noch kompletterer, medizinischer Ausstattung alle Untersuchungen durchführen könne. Sie müsse sich hierfür allerdings in die Etage 4 begeben, wo man bereits auf sie warten würde. Ihre Sachen könne sie gleich mit- nehmen und sich dann in Zimmer 13 neu einrichten. Ordnungshalber und aus Vorsichtsgründen müssten Patienten auf der Station untergebracht sein, auf der sie be- handelt würden, erklärte der junge Mann am Hörer. Klinikchef Dr. Hunds habe dies so angeordnet und im Klinikregelwerk niedergelegt. Der junge Mann bat noch einmal um Verständnis und verabschiedete sich.

Es sei hier angemerkt, dass Europina den weithin bekannten Klinikchef während ihres gesamten Aufenthalts in der Klinik nie zu Gesicht bekam. Er war eine viel beschäftigte Person. Er sei häufig auf Dienstreisen unterwegs, hatte man ihr eingangs mitgeteilt.

Europina sah keinen Grund, dem Ansinnen des Rezeptionisten nicht Folge zu leisten, zumal sie naturgemäß nur wenige Utensilien dabei hatte. Ein dauerstationärer Aufenthalt sollte es ja nicht werden, sie hatte nur zwei Kleider mitgenommen. Wiederum packte sie rasch ihre Tasche und begab sich dann, den Fahrstuhl meidend, über eine Stiege in die vierte Etage, wo ein paar Meter weiter auf Höhe des Zimmers 13 bereits eine Krankenschwester mit dem voll geladenen Frühstücktablett auf sie wartete. Während sie auf diese zuging, kam ihr ein schwerfällig humpelnder, großer Mann entgegen, der einen weißen Kopfverband wie einen Turban trug, was bei ihr ein Aufzucken eines Kopfschmerzes, wie sie ihn in solcher Intensität seit längerem nicht mehr gehabt hatte, verursachte.

Etage 4, die Station für minderschwere Fälle, schien sich äußerlich nicht sonderlich vom Stockwerk darüber zu unterscheiden. Lediglich die Farblackanstriche waren different. War oben alles in ein mildes Orange getaucht, so hatte man hier unten auf ein sehr helles Blau gesetzt. Sie bedankte sich bei der Krankenschwester, die ihr mitteilte, dass die Untersuchungen in einer halben Stunde beginnen würden, und betrat ihr neues Zimmer, wo sie ihr Frühstück einnahm, Kaffee, Orangensaft und eine Eierspeise mit Vollkornbrötchen. Wie es ihre Art war, erschien Europina danach pünktlich zur Erstuntersuchung in der Stationspraxis. Dass sie am nächsten Tag nicht wieder nach oben in Etage 5 zurückkehrte und auch nicht nach Hause aufbrach, sondern in die Station für mittelschwere Fälle gebracht wurde, also Etage Nr. 3, hatte mit außergewöhnlicher Umständen zu tun und war so gekommen: In der hellblauen Station hatte sie zunächst mehrere ihr vorgelegte Fragebögen ausgefüllt. Danach hatte sie an einem ausführlichen Gesundheitscheck teilgenommen, der von Dr. Schreibel, einer durchaus angenehmen und kompetent wirkenden Erscheinung, durchgeführt wurde, ein rou- tinemäßiger, jedoch intensiver Check, den sie in Teilen auch schon aus Dr. Bergs Praxis in Westerngrund kannte. Und sie absolvierte mehrere Verhaltenstests und ein diagnostisches Gespräch mit der Psychotherapeutin der Station, Frau Dr. Hennink, wobei neben den Kopfschmerzen und den früheren Schwindelanfällen auch ihre Schwermut Thema war.

Die Befunde, die am nächsten Tag vorlagen und Europina ausführlich dargelegt wurden, zeigten deutlich, dass sie sich keine allzu großen Sorgen machen musste. Ihr vermessener Körper hatte erneut durchweg günstige Werte geliefert, wenn man einmal von einem signifikanten Eisenmangel absieht: nur 35 Mikrogramm beim Ferritin. Hier würde man mit einem einschlägigen Medikament wirksam gegensteuern können. Auch die Psychologin winkte hinsichtlich ernsthafter gesundheitlicher Komplikationen eher ab. Melancholische Zustände seien bei vielen Menschen keine pathologische Auffälligkeit, von einer Depression könne kaum die Rede sein, ganz ausschließen könne man sie jedoch auch nicht. Beobachtbar sei allerdings ein Phänomen, das Dr. Hennink, die in der Heidelberger Schule des berühmten Psychiaters Schultz-Hencke ausgebildet worden war, mit dem Begriff „retentives Antriebserleben“ etwas antiquiert umschrieb. Sie habe sich dies so vorzustellen, meinte die Therapeutin, dass bei ihr – anders als bei sogenannten Tatenmenschen – das Vorerleben einer Aktion oder Aktivität gar nicht erst sonderlich lustvoll aufgenommen würde, sodass Alltagshandlungen gerne fallengelassen würden und stattdessen eher ein Rückzug ins Geistige, Spirituelle, Philosophische, ja Grüblerische zum Tragen käme. Sie, Dr. Hennink, wolle aber nicht so weit gehen, hier von einem Symptom psychischer Erkrankung zu sprechen. „Sie sind eben ein feiner, ja sensibler Mensch.“ Sehe man das Symptom allerdings im Zusammenhang mit den bei ihr bereits identifizierten somatischen Misslichkeiten – Schwindel, Kopfschmerz – so würde sie empfehlen, meinte Dr. Hennink, doch einmal die neuronal-neurologische Seite des Ganzen genauer in den Blick zu nehmen. Die Seelenärztin empfahl ihr deshalb, mit einem Neurologen der Klinik zu sprechen und auch ein MRT machen zu lassen.

Europina, die sich auf zwei bis drei Tage Klinikaufenthalt eingestellt hatte, willigte also am zweiten Tag ein, dies zu tun und wurde daraufhin gebeten, sich am Folgetag bitteschön auf Station 3 zu begeben, da dort der Neurologe seine Praxis habe und auch der Kernspintomograph dort im Einsatz sei. Man habe ihr Zimmer 9 reserviert. Eine Krankenhelferin würde ihr den Weg zeigen und sie begleiten, wenn es soweit wäre. Sie solle sich keine Sorgen machen, beruhigte sie der Arzt, als er ihr Stirnrunzeln bemerkte, eigentlich gehöre sie nicht in den dritten Stock der mittelschweren Fälle und sicher würde sich alsbald herausstellen, dass sie die Klinik rasch wieder verlassen und den Heimweg antreten könne. Mit einem leichten Anflug von Resignation bedankte Europina sich beim Ärzteteam, verließ die Stationspraxis und begab sich wieder in ihr Zimmer.

Wollten es die Moiren so?
War ihr Fall, sagt an, Ihr Parzen, ein leichter bei all der Schwernis?

Ein reichhaltiges Abendessen wurde ihr gebracht, und während sie den Braten mit Klößchen und Karotten gemächlich verzehrte, schaute sie sich im Fernsehen eine banale Soap an, danach folgten die Tagesnachrichten: In Frankreich hatte ein 39-jähriger Politiker namens Macron, ein neoliberaler Newcomer, die Wahlen gewonnen und wurde zum Präsidenten gekürt. Die deutsche Kanzlerin habe sich gefreut. Die deutsche Presse ersann sogleich das Hybrid-Wort „Mercron“. Die Mafia verdiene kräftig mit beim Flüchtlingsdrama, vor allem in Italien. Vor Lampedusa waren wieder hunderte Flüchtlinge ertrunken, einige konnten gerettet werden. Der Flughafen und Hafen von Thessaloniki wurde im Zuge der oktroyierten Privatisierungswelle nun von deutschen Firmen geführt. Islamische Fundamentalisten seien zunehmend im Kosovo aktiv – und dies weitgehend ungehindert. Immer mehr Menschen entschieden sich angeblich für vegane Kost. Das Wetter.

Immer nur miese Nachrichten aus meiner Heimat, dachte sie betrübt, während sie sich zum Schlafen fertig machte. Thessalonikis infrastruktureller Reichtum in deutscher Hand. Der berühmte Hafen von Piräus, dem Melina Mercuori einst in dem Film „Sonntags nie“ mit dem Gassenhauer „Ich bin ein Mädchen aus Piräus“ ein Denkmal gesetzt hatte, in chinesischer Hand. Globalisierung eben, dachte sie. Zugleich kam ihr erneut der Vers eines Liedes, das den schlichten Titel „Heimat“ trägt, in den Sinn – diesmal von Michalis Burbulis. Der Komponist Mikis Theodorakis hatte es vertont und die Volksängerin Maria Farandouri so kongenial zu interpretieren vermocht, dass der musikalische Vortrag immer wieder Begeisterungsstürme hervorgerufen hatte. Damals, in den widerständigeren Zeiten!

Oh Bitterkeit der Verzweiflung. Du blühtest auf in unserem Schlaf. Unbekannte fremde Schiffbrüchige sind wir geworden im eigenen Land.
Heimat Du, sie würfelten um Dich auf Pump

Der Folgetag in der Klinik brachte für Europina zunächst einmal die Neuigkeit, dass die Anmeldung in Etage 3 gescheitert war. Dies nicht nur in Bezug auf Zimmer 9, sondern die gesamte Etage betreffend. Das Ärzteteam hätte eigentlich wissen müssen, dass wenige Tage zuvor eine Gruppe aus Saudi- Arabien angereist war und die gesamte Fläche und Einrichtung der Station der mittelschweren Fälle in Beschlag genommen hatte. Da gab es kein Zurück und auch keine Ausnahme, wenngleich die Orga der Klinik noch ein vermittelndes Fax an den abwesenden Klinikchef abgesetzt hatte, um wenigstens einen Platz für die Patientin Europina freizuhandeln, man meinte es ja durchaus gut. Aber es war alles vergeblich, der Klinikchef wusste um seine zahlungsfreudige arabische Klientel und ihm war klar, wie er mit diesen Leuten umzugehen hatte. Es handelte sich um drei saudische Familien, insgesamt zwanzig Personen, die die gesamte Station gemietet und im Voraus eine großzügige Anzahlung gemacht hatten. Geld spielte eben keine Rolle bei solchen Elite-Truppen. Auch die Familienangehörigen wollten auf Zimmer sein, so wie sie dies in ihrem Heimatland gewohnt waren, nicht nur die zwei bis drei erkrankten Patienten. Prof. Dr. Hunds versprach sich auf diese Weise wie in jedem Sommer um diese Zeit ein großartiges, saisonales Geschäft, er träumte inzwischen von einer eigenen Forschungsabteilung der Klinik, wofür der investive Aufwand nach ersten Kalkulationen nicht unbeträchtlich war. Allmählich rechnete sich der Deal mit den „Scheichs“, er musste Prioritäten setzen. Die Saudis waren zum fünften Mal da, es freute ihn.

Europina sah also zunächst einmal in die Röhre, wie man so sagt, statt dass sie zu Analysezwecken in die MRT-Tube geschoben worden wäre. Aber wie schon einmal, gab es auch hier eine Lösung, einen Kompromiss, sofern die Patientin zustimmen würde. Das Ärzteteam führte ein paar Telefonate mit der Rezeption, den Führungsleuten von Station 3 und schließlich auch mit dem fernen Klinikchef, dann war die Sache geklärt. Europina sollte ein Zimmer in Etage 2 beziehen können, es war eine von höchster Stelle bewilligte Ausnahme. Der Neurologe würde sie dann dort aufsuchen, und für die Kernspin-Aktion würde man in den nächsten Tagen sicher auch eine Lösung finden. Gleich zwei Krankenbetreuerinnen boten ihr in herzlicher Manier an, ihre Sachen zu packen und sie mit der Tasche nach unten zu begleiten.

Aber Europina zögerte, sie war der außerordentlichen Umstände allmählich doch leid.

Was war das nur für eine seltsame Klinik, in der ständig Ausnahmezustand zu herrschen schien?! Ein Sanatorium gewiss nicht, allen- falls für reiche Muselmanen vom „Stamme der Wahhabiten“, dachte sie zürnend und hätte nun gerne einen freundschaftlich gesinnten Ratgeber an ihrer Seite gehabt. Aber Dr. Berg hätte in der Angelegenheit kaum etwas für sie tun können und ihr Zeus war eben zu weit weg. Intuitiv griff sie nach ihrem Talisman, den ihr der Titanen-Sohn in Matala dereinst geschenkt hatte, ein singuläres Silbersteinchen, in das ein lächelnder Stierkopf eingefasst war. Ihr Körper zitterte, an den Schläfen pochte es und die Knie wurden ihr weich. Sollte sie einfach gehen – nach solch einem gerüttelt ́ Maß an Geduldsprobe in den letzten Tagen? Sie erbat sich etwas Bedenkzeit und zog sich in einen Ruheraum auf Station 3 zurück, da ihr Zimmer bereits vergeben war und gereinigt werden musste.

Kernspin, EEG, Analyse ihres Gehirns … brauchte sie solche Untersuchungen denn wirklich? Gut, sie war nervös, etwas desorientiert, ermattet, melancholisch, aber was für ein Personal, was für Überraschungen erwarteten sie womöglich auf Station 2 noch, wo die schweren Fälle untersucht und behandelt wurden, überlegte sie hin und her. Wie würde die Atmosphäre dort unten wohl sein, ja klar, es waren nicht die schwersten, die völlig hoffnungslosen Fälle, beruhigte sie sich wieder ein bisschen, die waren ja im Erdgeschoss, auf Station 1 untergebracht. Sie dachte angestrengt nach und spürte, wie Hitze in ihr aufstieg. Sollte sie sich einfach auf und davon machen? Spornstreichs und wortlos verschwinden, die Türen waren nicht verschlossen, man würde sie gehen lassen, es erst einmal gar nicht bemerken, dass sie weg war, aber was sollte sie dann Dr. Berg sagen, wenn sie zurück wäre in ihrem Westerngrund. Und wie stand sie dann vor sich selber da?! Nun, war es eh schon spät, bemerkte sie mit Realitätssinn, die Regionalbahn würde sie heute nicht mehr zurückbringen. Die Deutsche Bahn-Führung hatte den Regionalverkehr in den letzten Jahren in manchen Landesteilen stark zugunsten des überregionalen Verkehrs auf den Hauptschlagadern des Bahnnetzes ausgedünnt. Eigentlich ein Skandal! Nein, sie wollte sich den Herausforderungen stellen und nicht kneifen, sie beschloss, den angebotenen Sondergast-Status auf Station 2 anzunehmen. Allerdings wohl war ihr nicht dabei.

Sie informierte die Stationsleitung von Etage 3, und ein paar Augenblicke später erschienen die beiden in grüne Kittel geschlupften Krankenpflegerinnen, hakten sich beiderseitig bei ihr ein und brachten sie, den Fahrstuhl nutzend, ins untere Stockwerk, wo bereits zwei Helfer von Etage 2 auf sie warteten. Die Übergabe erfolgte eher wortlos, auch diese beiden Helfer hakten sich bei ihr ein und führten sie vorsichtig, aber routinierten Schritts zu Zimmer 7, während sie etwas verschwommen registrierte, dass hier auf der Station die Wände in einem matten Grau angestrichen waren. Es war ihr letztlich gleich. Auf dem Gang der Station war niemand zu sehen. Auch das war ihr egal. Aus Zimmer Nr. 6 spitzelten jedoch für Momente Augen, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Es lag an den extrem buschigen Augenbrauen und einer irgendwie starr stechenden Miene, soweit erkennbar. Die Tür ihres neuen Zimmers stand offen, sie ging hinein und war froh, als man sie endlich allein ließ. Sie setzte sich in den bequemen Sessel am Fenster und wurde gewahr, dass im oberen Teil der Zimmerwand gegenüber ein künstliches Auge her- vorlugte, das ab und zu rot aufblitzte. Am Kopfende des Betts war ein Schalter angebracht, der die Aufschrift „NOTRUF“ trug. Auf dem kleinen Nachttischchen lag eine Bibel, sie hätte die Ilias oder die Odyssee von Homer zweifellos vorgezogen. Bei diesem Gedanken nickte sie im Sessel ein.

Paul, 67 und im früheren Beruf Gymnasial- lehrer für Geschichte und Musik, hatte schon mehr Erfahrung mit der Station für schwere Fälle, er war seit vier Wochen da. Ihm war vor einem Jahr die Diagnose „Liposarkom“ gestellt worden, ein bösartiger Tumor, der in das Weichteilgewebe seines Körpers metastasiert hatte und bereits im fortgeschrittenen Stadium war. Er hatte wegen mehrerer Chemotherapie-Aktionen fast alle Haare verloren und wirkte körperlich ausgezehrt. Nun stand er wieder unter Beobachtung des Onkologen der Station, wo in weiteren Fachabteilungen noch ein Herzchirurg und ein Arzt für Innere Medizin wirkten.

Als Europina in der Wäschekammer der neuen Station, wo sie inzwischen Hauskittel, Pyjama und Unterwäsche erhielt und ihre Wäsche waschen lassen konnte, Paul zum ersten Mal begegnete, erschrak sie zunächst etwas angesichts seiner Erscheinung: klappriges Körpergestell, Spiegelglatze, stechende Augen und sehr buschige Augenbrauen mit einzeln abstehenden, langen Härchen, die der Chemo sichtlich entgangen waren. Die beiden Patienten hatten sich dann aber ein wenig angefreundet, nachdem auch Europina bereits drei Tage auf den Neurolo- gen von Station 3 gewartet hatte, der sie absprachegemäß untersuchen sollte. Paul war trotz seines schweren Leidens eine unterhaltsame Person geblieben, dem es manchmal sogar gelang, Europinas Schwermut etwas zu untergraben. Dass er allerdings immer wieder mal im Gang der Station auf und ab spazierte und dabei bevorzugt das geistliche Lied „Komm, süßer Tod“ von Johann Sebastian Bach vor sich hin summte, strapazierte ihre Nerven doch ziemlich. Sie war ja – anders als er – ganz und gar nicht in der Verfassung, dem Gevatter Tod, dem Thanatos, spöttische oder ernstliche Schnippchen zu schlagen beziehungsweise ihn herauszufordern. Sie war auf Station 2 ein Sondergast, der alsbald wieder in die zivile Freiheit ihres neuen Heimatortes entlassen würde. Möglichst mit dem Befund: Nicht einmal ernst, schon gar nicht hoffnungslos.

Komm süßer Tod, komm sel ́ge Ruh! Komm, führe mich in Friede,
weil ich der Welt bin müde. Komm, süßer Tod …

Eines Tages, es war wohl der siebente Tag ihrer Präsenz in der zweiten Etage und sie hatte sich mehrmals beschwert, dass der Neurologe immer noch nicht aufgetaucht war, traf sie Paul im Frühstücksraum. Er war wiederum guter Dinge, sie aßen mit Appetit und unterhielten sich über Gott und die Welt. Man hatte ihr gesagt, dass morgen der Neurologe definitiv kommen würde. Als sie Paul dies mit zuversichtlicher Miene berichtete, zeigte sich der sehr überrascht. Ob sie nicht wisse, dass ab sofort und für zwei Wochen auf Station 2 keine Untersuchungen oder Behandlungen durchgeführt werden würden. Dies galt gewiss auch für den Neurologen. Die komplette Abteilung werde geschlossen, da die „Mannschaft“ gemeinsam in Urlaub gehe. Europina beugte sich wie mit einem Krampf kämpfend nach vorne über die Resopalplatte des Früh- stückstischs. Aber … aber … was passiert mit den Patienten, fragte sie ihren Begleiter verdutzt. Kein Problem, meinte dieser, im Erdgeschoss, also in Stockwerk 1 sei genügend Platz und auch geschultes Personal in reichlichem Umfang vorhanden, das auf alle erforderlichen Belange eingestellt sei. Dort würde sie sicherlich dann auch der Neurologe aufsuchen. Als Europina diese ihr noch unbekannte und wenig frohe Botschaft vernahm, trug es sich zu, dass sie unversehens vom Stuhl plumpste und hart auf dem Boden aufschlug. Für Momente war sie völlig von Sinnen. Offensichtlich eine heftige Hyperventilation.

Paul erschrak und alarmierte die Leute vom Bereitschaftsraum, die anderen Patienten im Speisesaal waren, sofern sie konnten, aufgestanden und beobachteten stumm die Szene. Zwei Krankenpfleger in grauen Kitteln eilten herbei, hievten Europina auf eine Bahre mit Rädern und schnürten sie mit zwei halbelastischen Riemen fest, da sie immer wieder stark zuckte. Man verabreichte ihr sofort ein Beruhigungsmittel und fuhr sie dann, den Fahrstuhl nutzend, auf der Bahre zweckmäßigerweise gleich in Zimmer 3 in Etage 1, der Station mit den allerschwersten Patientenfällen, den aussichtlosen Fällen. Paul hatte es ja vorausgesagt.

Während von Nikosia bis London, von Lissabon bis Warschau, von Palermo bis Oslo, von Madrid bis Brüssel die „europäische Krankheit“ grassierte und immer mehr epidemische Ausmaße annahm, gab Europina, als sie schließlich aus ihrer Ohnmacht erwachte, innerhalb von Sekunden ihre Hoffnung endgültig auf, ihre innere Mitte doch noch zu finden, ihre Schirmherrschaft auszufüllen und unter Einsatz ihrer Magie korrigierend auf ihrem geliebten Kontinent Europa einzugreifen, sie war aus dem Lot geraten, es war genug … Ihr kam dieser melancholische und zugleich doch erlösende Song eines kanadischen Poeten in den Sinn, eines singers, der mit Europa und insbesondere mit der griechischen Insel Hydra, wo er früher länger gelebt hatte, immer sehr verbunden war und vor kurzem sozusagen mit den folgenden, alttestamentarisch inspirierten Zeilen auf den Lippen verschieden war:

You want it darker, I ́m ready, My Lord, We kill the flame. Hineni, Hineni

Die Moiren standen seit eh und je über den Göttern, Halbgöttern und sowieso den Menschen, und also standen sie auch über ihr, dachte sie. Sie wollten es so, wie es kam. Sie beschloss, sich zu fügen, wenngleich sie am ganzen Leib zitterte, weil sie zwischen ihrem Erschrecken und ihrer Gefasstheit nicht die Balance zu halten vermochte. Ach, Europa, dachte Europina.

Als die Pfleger schließlich die Tür zu Zimmer 3 im Erdgeschoss öffneten und Europina in den für sie vorgesehenen Raum hineinschoben, senkten sich – gesteuert über einen komfortablen Automatismus – die Jalousien der beiden Zimmerfenster mit einem leisen Surren nach unten ab, so dass vollständige Dunkelheit Platz griff. Sie war angekommen. Welche Farbe der Anstrich der Station der Hoffnungslosigkeit aufwies, ist nicht überliefert, sie hatte es selbst wohl gar nicht mehr bemerkt.

Hinweise

  • Der Schlussteil der Novelle ist sehr frei nach einer Idee von Dino Buzzati, Das Haus mit den sieben Stockwerken, gestaltet.

  • Nun kommt Ihr kaum noch…Vierzeiler des Autors
  • Der Schlaf hüllte Dich ein…G.Seferis/M.Theodorakis
  • Gepriesen sei der….J.Ritsos/.M.Theodorakis
  • Adelaide, Lied von Beethoven
  • Das Angenehme dieser Welt…Hyperion, Hölderlin
  • Da folgen wir, Diotima…Hyperion, Hölderlin
  • Untergegangen der Mond…Gedicht von Sappho
  • Wollten es die Moiren so…Verse des Autors
  • Oh Bitterkeit der Verzweiflung…Gedicht „Heimat“, M.Burbulis/M.Theodorakis
  • Komm, süßer Tod…Geistliches Lied von J.S.Bach
  • You want it darker, Song von L. Cohen


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