Mein schwieriger Marxismus

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Buchcover Karl Marx - das Kapital

Die Lektüre von Karl Marx und natürlich auch Friedrich Engels gleicht einem Fass ohne Boden. Ich habe über die Jahrzehnte tief in das Fass hineingesehen. Meine Begeisterung über die politökonomische Kapitalismus-Analyse von Marx begann sehr früh im Studium der Volkswirtschaftslehre und Soziologie in Mannheim und Heidelberg, in den sog. studentenbewegten Zeiten. Das Hauptwerk, Das Kapital I, II und den unvollendeten Band III, habe ich damals ausgiebig in mich aufgesogen. Was die marxistische Arbeitswertlehre und Mehrwerttheorie, die dort dargelegt wird, angeht, komme ich bisweilen auch heute noch ins angestrengte Sinnieren. Später, nach dem Studium, begriff ich über die Lektüre vor allem Sartres und Camus´, dass es auch unentwegte „anthropologische Konstanten“ gibt, die über die jeweils epochalen Klassengegensätze von Gesellschaften weit hinausreichen. 

Dennoch ist mir das Anliegen von Marx, vor allem den Industrieproletariern des 19. Jahrhunderts und deren Familien den „aufrechten Gang“ (E. Bloch) und einen gesellschaftlichen „Wärmestrom“ (E. Bloch) zu ermöglichen, ein edler und kraftvoller Versuch geblieben. Nur gibt es dieses Proletariat so kaum noch in unseren modernen Zeiten, jedenfalls in Europa oder den USA als Klasse für sich kaum mehr. Hält die Theorie trotzdem noch, was sie ursprünglich fast schon eschatologisch herauszudeuten beabsichtigte? Rudolf Bahro sprach einmal pointiert, aber durchaus sympathisierend, vom Marxismus als einer „Teilwahrheit“. Interessante Aussage!

Der junge Marx gilt in der Exegese der Eingeweihten als eher sozialistisch-humanistisch, der ältere als eher strukturell kommunistisch. Das berühmte Kommunistische Manifest liegt – auch zeitlich – irgendwo dazwischen. Marx´ Spätwerk, eben Das Kapital, zeigt sozioökonomische Entwicklungstendenzen auf, die für mich auch heute noch zutreffen: der tendenzielle Fall der Profitrate, die Akkumulation und Konzentration des Privatkapitals, die Lehre zur Warenästhetik, der Entfremdungsbegriff, der system-immanente Zwang zur Eroberung der Weltmärkte. Schließlich der Dialektische und der Historische Materialismus, den Marx und Engels als grundlegende philosophische Lehre entwickelt haben. Alles in allem ein grandioses Gesamtwerk. Und dies übrigens auch in sprachlicher Hinsicht!

Die späteren Fehlentwicklungen in den Ländern des sogenannten realen Sozialismus (Stalin in seiner despotischen Phase, Mao in der Kultrurevolution, Nordkoreas Führungen) sollte man Marx lieber nicht zur Last legen, denke ich. Da brüsteten und schmückten sich doch eher Spitzenkader mit ihm, die Marx´ Freiheits- und Gerechtigkeitsideen machtbesessen verfremdeten oder gar ad absurdum führten. Man sollte, meine ich, Jesus auch nicht für die Inquisition der Kirche(n) oder die Gräuel der Kreuzzüge verantwortlich machen!

Aber Jean Paul Sartre gibt zu Recht zu bedenken: „Moi, je ne suis pas marxiste, je suis marxien.“ Marx selbst soll in etwa dies mit einem ironischen Anflug auch mal von sich selbst gesagt haben – zu seinem Schwiegersohn. Und weil es mir ähnlich geht, schreibe ich seit 2019 Zeile um Zeile an einem Traktat mit dem Titel „Mein schwieriger Marxismus“. Es ist noch lange nicht fertig.

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