Mein Wille geschehe?

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Über den Zufall und den freien Willen

In der Frage des freien Willens bzw. des Zufalls bin ich ganz Dialektiker. Leser/innen dieser kurzen Überlegungen mögen sich etwas in Geduld üben, um zu realisieren, was ich meine …

Aufschlag 1: Bei den vielen seligen, manchmal auch weinseligen Heidelberger Debatten und Wortgefechten mit Menschen aus meinem Umfeld und früher auch in einem informellen Philosophiekreis stellt(e) sich manchmal der Moment ein, da ich nicht mehr an mich halte und dann augenzwinkernd, aber provokant verkünde: „Halt, stopp, es gibt ihn nicht, den freien Willen! Und es gibt ihn nicht, den Zufall!“ Es gibt beides nicht, möchte ich damit erst einmal sagen, insoweit alles sichtlich vorbestimmt ist und Kausalitäten folgt.

Dann komme ich gerne mit meinem Standardbeispiel, sofern man gewillt ist, mir zuzuhören, und das geht so: Ich trete aus dem Haus, in dem ich wohne, und ein Ast fällt mir auf den Kopf. Eigentlich ein banaler Vorgang, fast nicht der Rede wert, unter dem Aspekt des freien Willens jedoch durchaus interessant. Denn: Nichts, was im prozessualen Sinne werdend ist, ist ursprungslos. Wenn etwas geschieht oder getan wird, hat das Geschehen, mag es noch so unerheblich sein, eine „causa“. Dies ist auch so, wenn der kausale Zusammenhang irrelevant ist oder ignoriert wird. Man denkt beispielsweise beim Verlassen des Hauses: So ein Zufall, ausgerechnet jetzt! Es war jedoch kein Zufall, denke ich. Denn dass der Ast genau in jenem Moment vom Baum bei meiner Haustür fiel, als ich da war, will sagen: an der entscheidenden Stelle war, ist genauso durch kausale Sequenzen determiniert (Wind, Stamm, Ast, Wasserauf-nahme, Regen, Wachstum, usw.) wie der Umstand, dass ich, exakt ich und nicht ein anderer Mensch, just in dem entscheidenden Moment unter den fallenden Ast getreten bin, als dieser sich vom Baum gelöst hatte, genauer gesagt: gelöst wurde. Nun habe ich also einen kleinen Kratzer am Kopf. Auch mein Handeln war qua Kausalkette – ausgerichtet auf jenen besonderen Moment hin – determiniert, als mir der Ast auf den Kopf patschen sollte (Bier holen, Geschäft gleich zu, Schlüssel mitnehmen, Schuhe anziehen, kurz ausgerutscht, usw.). Nur eben aus einer anderen Richtung, von einer anderen Kausalkette her.

Wir haben es hier also „ceteris paribus“ mit zwei Kausalketten zu tun, die dasjenige Ereignis hervorbrachten, das wir dann Zufall nennen, ohne dass es Zufall ist. Im Gegensinn sozusagen von etwas, was „aus heiterem Himmel fällt“. Und schon ganz und gar nicht hatte ich mich in der Zeit des Verlassens meiner Wohnung bzw. des Hauses dafür entschieden, just zu jenem Zeitpunkt aus der Haustür zu kommen, als geschah, was hier im Beispiel geschildert wird. Ich verhielt mich weder willentlich noch unterlassend. Und doch oder gerade eben deshalb passierte das Ereignis.

Sagen wir es so: Der Begriff “Zufall” ist eigentlich besser ausgedrückt durch das Wort Koinzidenz. Dies meint – engl. coincidence – das Zusammentreffen von Ereignissen. Wir nennen es in Deutschland (und anderswo) Zufall. In spanischsprachigen Ländern hat man das Wort coincidencia und für eigentlichen Zufall sagt man casualidad. Aber ganz gleich, wie man es nennt, das Beispiel zeigt: Wir sind determiniert. Und ich meine damit natürlich nicht die Prädestination der Calvinschen Lehre, die auf einem Glaubensdogma basiert und vor allem intendiert, dass „die Miserablen“ sich mit ihrem Los abfinden. Jene Lehre steht auf einer anderen Kuhhaut.

Man kann nun allerdings einwenden, ich könnte mir beim Verlassen des Hauses einen momentanen Ruck geben und etwas später oder früher auf den Gehweg treten; dann fiele mir jener Ast eben nicht auf den Kopf, sondern an mir vorbei. Das mag schon möglich sein. Hierfür bräuchte ich aber – noch innen im Haus bzw. „kurz vor knapp“ – lichte seherische Begabung – über die ich nicht verfüge, und wohl die meisten Menschen oder gar alle nicht.

In einem solchen Fall (ich gebe mir einen Ruck, der Ast trifft mich nicht) käme auch kein Bewusstsein über den gerade beschriebenen Vorfall zustande. Er bliebe schlicht aus und seine Eventualität eher unbemerkt. Und das, was nun stattdessen passierte oder unterbliebe, wäre halt ebenfalls “Koinzidenz” – nur mit einem anderen Ergebnis. Der Ast fiele neben mir zu Boden. Ich könnte ihn aufheben oder es auch lassen, was in beiden Fällen eine neue Kausalkette originieren würde: Wäre ich in Eile? Hätte ich Sorge, dass jemand über den Ast stolpert, oder würde ich daran gar nicht denken? Würde ich mich zum Ast bücken und ihn aufheben, weil ich ein ordentlicher Mensch bin oder eben nicht? Würde mich das Pfeifen eines Mitbürgers von dem Ast ablenken, sodass ich ihn vergessen oder erst nach meiner Rückkehr wieder bemerken würde, falls ihn nicht ein anderer Mensch inzwischen beseitigt haben würde? Kausalketten allenthalben! Determiniertheit!

So scheint es also – einfach exemplifiziert – um den freien Willen und den Zufall zunächst einmal zu stehen. Und auch Rousseaus Volonté Générale darf zu guter Letzt im Sinne dieser Ausführungen gedeutet werden, denke ich. Von der individuellen zur kollektiven Bestimmtheit! Die handelnde Person ist prädeterminiert (und bei wechselseitiger Interaktion auch das Kollektiv), und der freie Wille ist letztlich in einem idealistischen Sinne nicht vorhanden, was jedoch nicht dem widerspricht, dass wir uns den freien Willen durchaus einbilden (können) – ebenso wie wir ja zu beobachten meinen und glauben, dass es Zufall in der Tat gibt. Aber selbst wenn wir uns die Handlungen und Geschehnisse des Tages bemüht und gezielt ins Bewusstsein heben, bleibt ein Phänomen zu beachten, das als die „dritte Kränkung des Homo Sapiens“ (1) in die Menschheitsgeschichte eingegangen ist: Wir werden auch von unbewussten, inneren Mechanismen gesteuert und handeln nicht überwiegend bewusst. Freud lässt grüßen. Auch das berühmte Libet-Experiment (2) zeigte uns vor einem halben Jahrhundert, dass es „neuronale Vorschaltungen“ unseres Handelns, also Determinismen, gibt, die uns steuern. Sekundenschnell, um es vereinfacht auszudrücken.

Es ist zudem eine Grundannahme der klassischen Physik, der zufolge in der Natur (uns Menschen eingeschlossen) nichts ohne Grund geschieht. Wir hätten es im Bereich der irdischen und kosmischen Materie und der Elementarteilchen demnach mit vollständig determinierten Kausalge-flechten zu tun. Dies galt allerdings in historischer Sicht der Erkenntnis-lehre nur bis zu den Zeiten der Planckschen und Heisenbergschen Quantenphysik, die das „deterministische Weltbild“ der Physik in Frage stellte und sich dabei vor allem auf die „Unschärferelation“ (3), sowie einige bahnbrechende Experimente berief.

In den sich daran anschließenden Deutungen zum Zufall und zum freien Willen im Kontext von quantenmechanisch bedingten Gestaltungsfrei-räumen, also dem Versuch, dem Determinismus zugunsten von relativer Willensfreiheit über eine Synthese physikalischer und geisteswissen-schaftlicher Erkenntnisse zu Leibe zu rücken, findet man vor allem spekulative, wenngleich spannend zu lesende Deutungen. Die Substanz der Ergebnisse schwächelt jedoch zu sehr, was auch die interdisziplinären Exegeten selbst zugestehen (4), und ich bin in Physik nicht bewandert genug, um diesbezüglich zu auch nur halbwegs gefestigten Einsichten gelangen zu können. Also lasse ich hier lieber die Finger davon und befeuere die Neuronen meines Gehirns in andere Richtungen. Willentlich?!

Aufschlag 2: Nun kommt aber das (für mich) Entscheidende, nämlich die Antithese im eingangs angedeuteten, dialektischen Denkprozess, der nachdenklichen Menschen angesichts der Wucht des Themas seit eh und je Herzklopfen bereitet. In den ominösen Heidelberger Runden präsentiere ich sie, nachdem wir diverse Kausalketten-Beispiele durchdekliniert haben, mitunter als Aufschrei der Befreiung: Hurra, heureka, ich hab´s, haltet ein, der Wille ist frei! Unser jeweiliger Wille ist – in einem anderen Sinne – eben doch frei. Und den Zufall gibt es doch als etwas, worüber wir gerne staunen und uns wundern, weil wir es uns nicht erklären können. Wir brauchen nicht zu verzagen. Der Wille ist „frei“, denn es bin ich, das individuelle Subjekt, dem der Ast auf den Kopf fällt und ich bin es, der so gesteuert wurde, wie geschildert, und im gegebenen Fall mit dem fallenden Ast kein anderes Lebewesen. Und dann komme ich, falls man weiter geneigt ist, mir zuzuhören, zu meinen zwei thematischen Lieblingsbeispielen (siehe weiter unten).

Es ist da im Vorgang selbst in Verbindung mit mir Authentizität vorhanden. Das, was mir passiert, kann – philosophisch! – so keinem anderen Menschen passieren – allenfalls kann einem anderen Menschen etwas Ähnliches passieren, etwa wenn meine Frau statt meiner in demselben Moment aus dem Haus gegangen wäre und der Baum genauso reagiert haben würde, wie bei mir, was naheliegt. Aber das wäre dann ein anderer Fall Ich bin insoweit authentisch und erst einmal nicht klonbar. Und das gilt selbstverständlich nicht nur für das, was mir passiert, sondern auch für mein Handeln. Es gilt für Beides, für mein Handeln und mein Unterlassen.

Ich bin also, so lautet dann in der Runde meine Konklusion, frei, weil ich es bin. Weil ich wie andere Individuen ein Selbst habe. Ein handelndes Individuum, das durch seine “Vorverankerungen” des Lebens und im Alltag in concreto anders handelt als jedweder andere Mensch. Ich war so frei, mir einen Ast auf den Kopf fallen zu lassen…oder Kuchen zu holen oder in der Wohnung zu bleiben. Es ist Teil meiner Identität, dass ich frei bin, indem ich mich frei fühle. Und meine Überlegungen erachte ich natürlich auch bei Synchronturmspringern oder Stepptänzerinnen als gültig, die ihren jeweiligen Willen, ein synchrones Bild abzuliefern, möglichst optimal aufeinander abzustimmen versuchen. Warum gibt es im Deutschen keinen Plural für „Wille“ oder den Willen? Oder gibt es den Plural doch? Laut Duden schon, aber es klingt seltsam. Und die Anwendung des Plurals ist wohl äußerst selten. Nun aber zu den beiden Beispielen:

Vor meinem geistigen Auge sehe ich eine junge, ausgesprochen willensstarke Frau. Sie ist gerade erst 17 Jahre alt. Sie steht auf einem Platz bei anderen Menschen. Immer wieder. Oder sie sitzt auf dem Boden eines ICE, weil sie keinen Sitzplatz findet. Oder sie steht auf einem Podium vor einem Mikrophon und redet. Sie fährt in Begleitung mit einem Boot über den Atlantik und spricht dann vor versammelter Mannschaft in der UNO in New York den zornigen Satz: How dare you? Sie hat Tränen in den Augen, als sie das sagt.

Von außen betrachtet, ich habe es schon angedeutet, setzt da also jemand seinen Willen willensstark ein, volle Kraft voraus mit einem klaren Ziel. Und doch ist dieser ihr Wille zunächst einmal unfrei und zugleich ihr Schicksal, wie mir scheint. Die Determinierungen für ihr zielstrebiges und willensstarkes Verhalten ließen sich rekonstruieren, am besten durch sie selbst und durch ihre familiäre Umgebung. Das „Kausalkettenmanagement“ funktioniert zweifelsohne auch bei ihr und es ist dabei vom Grundsatz her unerheblich, ob sie mit dem Asperger-Syndrom, einer bestimmten Spielart des Autismus, ausgestattet ist oder sogar darunter leidet. Nein, ihr Wille, wie er sich in ihren Alltagshandlungen, ihrem Engagement ausdrückt, ist prädeterminiert. Und doch darf sich Greta Thunberg dabei frei fühlen, ihrem Willen Ausdruck und Wirkung zu verleihen, denn es ist sie selbst mit ihren thunbergisch konstituierten Neuronen und Synapsen oder auch: mit ihrer „Seele“, die da spricht und zürnt und nicht eine andere Person.

Aus meiner Sicht erweist sich das Spiel um den freien Willen in diesem Sinne als eine von der Natur eingerichtete, ausgesprochen schöne Illusion von Freiheit, was ich nicht ironisch meine. Bei der Umweltaktivistin und auch beim Rest der Welt. Es ist eine Illusion, der wir gerne und zumeist gekonnt erliegen. Sollen wir sie Sinnestäuschung nennen? Illudere meint auf Lateinisch eigentlich nur: ein Spiel treiben. Man könnte es auch so ausdrücken: Die Ich-Identität ist von solch enormer Substanzialität, dass es bis zur Einbildung eines freien Willens nur ein kurzer Weg ist. Fernöstliche Weisheitslehrer würden dieser Konklusion vielleicht gerne folgen wollen.

Den Willen kann man nun aber nicht nur bei willensstarken und zielstrebigen Leuten beobachten, sondern auch bei eher stoischen bis phlegmatischen oder gar „faulen“ Menschen, also sog. Müßiggängern. Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, der übrigens seinen arbeitsfreiheitsorientierten Schwiegervater durchaus geschätzt haben soll, schrieb 1880 ein kleines Bändchen mit dem schönen Titel: Das Recht auf Faulheit (5). Ich hatte es mir in meinen Studienjahren sogleich besorgt und inspiriert gelesen, nachdem ich die drei blauen Bände von „Das Kapital“ in harten, aber spannenden Übungen durchgearbeitet hatte. Sozusagen ein kleiner Gegen- oder Komplementärentwurf. Dies führt mich zu Beispiel 2 (in Aufschlag 2):

In dem wunderbar komischen Film mit dem deutschen Titel „Alexander, der Lebenskünstler“ (6) wird ein Bauersmann von seiner agilen und gestrengen Frau schikaniert, kontrolliert und bevormundet. Ihr, die ihn durchaus lieben mag, ist wichtig, dass er pünktlich aufs Feld geht, seine Arbeit verrichtet und abends die Ernte einfährt. Er, ein Phlegmatiker comme il faut, folgt weitgehend ihrem Willen, denn es mag so sein, dass auch er sie liebt und er ist ein folgsamer Mensch. Eines Tages aber stirbt die Frau, indem sie mit ihrem Auto an eine Wand prallt. Nun ist Alexandre allein, und all die erlebten Demütigungen sind nicht mehr vorhanden, wenngleich in seiner Seele eingegraben – nach dem Motto: Die Seele vergisst nichts. Er beschließt geradezu lustvoll, fortan seinen Neigungen zu folgen und diese bestehen aus purem Müßiggang.

Er nimmt sich das Recht auf Faulheit, so scheint es. Nach Gusto bleibt er im Bett liegen, während der Hund ihm die Morgenzeitung bringt und er sich mittels einer Seilwinde sein Frühstück aus der Küche ans Bett zieht. Er genießt seine neue Vita Contemplativa aufs Äußerste, die Vita Activa gehört für ihn der Vergangenheit an.

Bei dieser „Verwandlung“ beweist der fröhliche Stoiker für den Betrachter von außen eine außerordentliche Willensstärke beim Nichtstun, beim Müßiggang, beim „Die Seele baumeln lassen“. Selbst als besorgte Mitbürger/innen ihm eine junge Schöne als Köder ans Bett schicken, um ihn wieder ins aktive Leben zurückzuholen und er sogar mit ihr vor dem Traualtar landet, bleibt er sich am Ende treu. Ihm dämmert die neue „Unfreiheit“ und er verweigert zum Entsetzen aller Anwesenden das Ja-Wort. Er scheint frei genug zu sein, ja geradezu überschwänglich, „Nein“ zu sagen, wenn auch buchstäblich im letzten Moment.

Das Lebenskünstlertum des Alexandre ist also als geradezu existen-zielles Bedürfnis auf den Erfahrungen mit seiner dominanten und selbstherrlichen Ehefrau gewachsen und gewuchert, all jene aufoktro-yierten Plagen. Selbst der scheinbar exzeptionelle Willensakt in der Kirche, die neue Ehe zu verweigern, ist nicht wirklich sein freier Wille. Alexandre konnte nicht anders, als er begann, gerade noch rechtzeitig zu verstehen. Dennoch darf er sich im zweiten Teil des Films bis zum Ende durchaus „frei“ fühlen, und es ist ein Genuss, dies von einem großartigen Schauspieler dargestellt zu sehen. Frei von der früheren Plackerei und frei von einem möglichen zweiten Ehegefängnis sowie vor allem auch frei darin, seine Identität gewahrt zu haben, obwohl dies nicht allein sein willentliches „Verdienst“ ist. Es ist ganz glaubwürdig einfach so über ihn gekommen – als Schicksal, das er nicht wirklich in seiner Hand hatte, das aber kongruent zu seinem charakterlichen Sosein (und nicht anders) verläuft. Man könnte statt von Schicksal von Zwangsläufig-keit mit einem guten Ende für den Protagonisten sprechen.

Und inwieweit im Film der Unfalltod der Ehefrau Zufall ist, darüber mag man länger sinnieren. Ich meine, er ist in erster Linie dem Temperament und der Bösartigkeit der Bauersfrau geschuldet, wenngleich sie ihn natürlich nicht verdient hat. Ich glaube auch in diesem Fall an Koinzidenz im richtigen Moment. Und „richtig“ meint hier ganz wertfrei das Timing zugunsten Alexanders.

Soweit das filmisch-fiktionale Beispiel mit Alexandre sowie das reale Beispiel, wobei ich der geschätzten Greta, die mir wie ein Zauberwesen vorkommt, natürlich nicht persönlich begegnet bin. Ich komme nun fast schon zum Ende und ziehe ein knappes Fazit:

Wer glaubt, der Wille sei beherrschbar, ist – sorry – ein Zwanghafter. Wer glaubt, der Wille sei frei, ist – sorry – ein Illusionist. Wer glaubt, der Wille sei unfrei, mag ein Pessimist oder Skeptiker sein, kommt aber insoweit der Wahrheit näher, als wir uns die Freiheit des Willens konstruieren müssen, während seine Unfreiheit zunächst einmal evident ist. Ich will versuchen, dies abschließend kurz zu belegen.

Zu dem Essay, das Sie hier nun gerade lesen, lieber Leser, verehrte Leserin, hat mich die Begegnung mit einem gestandenen Juristen, seines Zeichens emeritierter Strafrechtsprofessor, inspiriert. Der Zufall, der keiner war, wollte es, dass wir, die wir beide am Speyerer Gymnasium die Schulbank bis zum Abitur gedrückt hatten, uns nach gefühlt schier unendlich vielen Jahren wiederbegegnet sind. Wir spazierten bei herrlichem Wetter müßiggängerisch über den Philosophenweg, von dem man auf Heidelbergs Panorama mit Schloss, Alter Brücke und Altstadt schaut und erzählten uns unser jeweiliges Leben. Später bei Kaffee und Kuchen in einem angesagten Heidelberger Café blieb es nicht aus oder wollte es ein erneuter Zufall (?), dass wir kurz auf den freien Willen des menschlichen Individuums zu sprechen kamen. Der Freund war am frühen Abend dann bereits gegangen, als ich mich eines kleinen Essays erinnerte, den ich vor Jahren zum Thema geschrieben hatte und hier in überarbeiteter Fassung präsentiere. Hierzu gehört nun auch der folgende kleine Exkurs zum Strafrecht.

Finaler Exkurs: Die modernen Neurowissenschaften bzw. ihre Repräsentanten/innen haben in den letzten Jahren immer eindringlicher darauf hingewiesen, dass, ich drücke mich vorsichtig aus, der menschliche Wille eher nicht frei ist, was die Strafrechtsjuristen in unserer Gesellschaft nach 1945 – ich führe hier die Interdisziplinarität des Essays ein Stück weit fort – zunehmend ins Grübeln gebracht hat. Im rechtsphilosophischen bzw. strafrechtlich-ethischen Diskurs kann nämlich der menschliche Wille insoweit nicht unfrei sein, als befasste Juristen dieser Couleur glauben wollen müssen, dass Strafbarkeit auf der Grundlage der Verfassung und abgeleiteter einschlägiger Gesetze vorhanden bzw. herstellbar sein müsse.

Juristisch drückt sich der Wille(n) eines Individuums in Vorsatz, Fahrlässigkeit und grober Fahrlässigkeit aus. Hier kann also die Bestimmung eines/r adäquaten Buße oder Strafmaßes füglich ansetzen. Zufallstaten (aber was ist Zufall?) und sog. Höhere Gewalt sind hingegen nicht strafbar, auch wenn es zu „Übergriffen“ auf Mitbürger-Menschen kommen mag. Was aber nun im Fall der Straffähigkeit und Strafmündigkeit eines/r Angeklagten für den Fall, dass die Annahme, der Wille sei nicht frei, zutrifft, was ich ja letzten Endes mit meinen Ausführungen zeigen möchte?

Hierzu möchte ich abschließend folgende gedankliche Lösung anbieten: Auch für Strafrechtsjuristen/innen und Richter/innen sollte eigentlich vom Grundsatz her gelten, dass der Wille determiniert ist (siehe Aufschlag 1 oben), dass wir also selbst bei den allerübelsten Taten nicht wirklich von Freiheit des Willens zur Tat sprechen können. Ich gebe zu, bei Sadisten fällt uns das ausgesprochen schwer. Wenn ein (zurechnungsfähiger) Angeklagter im Prozess seine böse Tat zudem gesteht, tut er darüber hinaus einen Willen kund, der mit seiner Ich-Identität zu tun hat. Er befördert seinen determinierten Willen zu aktiver Willentlichkeit (siehe Aufschlag 2 oben), etwa weil er ein geringeres Strafmaß zu erreichen hofft oder seine innerliche Verteidigung „psychisch zusammenbricht“. Er konstruiert selbst seinen freien Willen.

Ich denke, Richter (und Staatsanwälte wie Verteidiger) wissen nur zu gut, dass „das“ mit dem freien Willen eben so eine Sache ist, wenn sie im Verfahren stecken oder rechtsphilosophisch sinnieren. Genau deshalb haben auch die Verfassungsjuristen und ihre Exegeten Strafrechtstools implementiert, die die Willentlichkeit relativieren. Warum sonst gibt es im Verfahren „mildernde Umstände“ oder Haftstrafen auf Bewährung, deren Anwendung den Prozessbeobachter manchmal in Erstaunen versetzt oder beruhigt. Mit dem Einsatz solcher „Maße“ demonstriert die moderne Justiz, dass sie sich des Umstands bewusst ist, dass mit dem freien Willen auch de jure vorsichtig umzugehen ist. Der Aspekt der Resozialisierung des Verurteilten spielt hier mit hinein.

Auch für die Justiz, so denke ich, geht jedoch, gesellschaftlich gesehen, kein Weg daran vorbei, dass sie den freien Willen erst einmal voraussetzen, sein Vorhandensein in diesem Sinne geradezu kon-struieren muss, um überhaupt Strafbarkeit als Eventualität erwirken zu können. Und dies muss dann letztlich auch so sein, um die Gesellschaft vor Übeltaten aller Art bis hin zu schlimmster Kriminalität schützen zu können – notfalls, d.h. in besonders drastischen und massiven Fällen, wie sie die neue Nachrichtenlage leider offenbart, auch mit erweiterten Befugnissen für die Strafjustiz und den Strafvollzug – über die Sicherungsverwahrung in Einzelfällen hinaus, was allerdings im Vorfeld mit Klugheit abgewogen und verhandelt werden müsste. Willentlichkeit bzw. erkennbare Disposition wären dann vom Grundsatz her die Voraussetzung für einschneidendere und wirksamere Maßnahmen der Bestrafung angesichts der besonderen Schwere bestimmter extrahu- maner Taten.

Mit anderen Worten: Die Bewahrung der Menschlichkeit und der Schutz der zivilen Errungenschaften sind, so gesehen, höher einzustufen, als der Umstand, dass es einen freien Willen der Individuen allenfalls in dem Maße gibt, wie ich es in Teil 2 des Essays dargestellt habe, also nur als Ausdruck von Ich-Identität und/oder Einbildung. Die Determiniertheit muss hier aus Vernunftgründen zugunsten einer Konstruierung von Justiziabilität zurückweichen.

Für den einsamen Robinson auf seiner Insel vor der chilenischen Küste gelten diese abschließenden juristischen Überlegungen zur Funktion des Willens nicht. Jedenfalls solange nicht, bis er auf den Ureinwohner Freitag trifft und zusammen mit diesem (als Diener!) nach England zurückkehrt. Als Richter gab es vor Ort damals nur „Gott“ und die Natur. Das Robinson am Ende rettende Schiff nahm Kurs auf just die zweite Hauptinsel des Archipels Islas Juan Fernandez, wo Robinson viele Jahre zuvor gestrandet war. War das Zufall?


( 1) Die anderen beiden Kränkungen sind gemeinhin: Der Mensch stammt vom Affen ab. Die Erde ist nicht das Zentrum des Weltalls.

(2) Benjamin Libet, US-amerikanischer Neurologe, 1916 – 2007

(3) Die zentrale Aussage dieser Lehre besagt: Zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchen, etwa Ort und Impuls, sind nicht gleichzeitig genau bestimmbar.

(4) Es wird in diesem Zusammenhang gerne darauf verwiesen, dass eine gemeinsame Sprache, die „beiderseitiges Verstehen“ ermöglichen würde, noch nicht hinreichend entwickelt ist.

(5) Französischer Titel: Le droit à la paresse

(6) Französischer Film von 1968. Hauptdarsteller Philippe Noiret, Regisseur Yves Robert

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