Über Repression und Psyche, junge Leute, Autoritarismus

Ü

Die Lektüre des Buchs „Die Funktion des Orgasmus“ von Wilhelm Reich war für viele 68er damals eine Art Offenbarung der erotischen Zärtlichkeit. Ich entdeckte das Buch im ersten oder zweiten Semester, als ich noch in Mannheim studierte. Es lag auf einem „linken Büchertisch“ in der Universität zum Verkauf bereit. Ich erstand den billigen Raubdruck und las den Text aufmerksam.

Reich (1897 – 1957) war Arzt und Psychoanalytiker, seine Grundorientierung marxistisch und auch von Freud, dem damals noch stärker als heutzutage akzeptierten „Vater der Psychoanalyse“, beeinflusst. Der gebürtige Galizier, der in die USA emigrierte, sah mehr als andere Denker jener Zeit einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Repression und psychischer Erkrankung, der im Feld der Wissenschaft auch wegen der Vormachtstellung des Behaviorismus heutzutage weitgehend verloren gegangen ist. Helfen, also Gesundung bringen, sollte nach Reich eine Art Körpertherapie, bei der die destruktiven Energien der Individuen in positive Triebenergien umgelenkt würden und zu sinnlicher Entfaltung führen sollten. Reich fasste diese Gedanken in seiner Lehre zur Charakteranalyse und sog. Orgontherapie zusammen, was ihm gerne als esoterisch ausgelegt wurde und wird. Die „Charakterpanzer“ der Individuen, die aus gesellschaftlicher Unterdrückung spontaner Triebbedürfnisse entstehen, sollten aufgebrochen werden und zu einer ´lebendigeren und sensitiven erotisch-sexuellen Empfindungsfähigkeit führen. W. Reich sah die klassische Kleinfamilie in diesem Kontext als problematisch an, predigte aber nicht wirklich Libertinage. Im Zentrum seiner Überlegungen stand der junge Mensch in Pubertät und Adoleszenz. „Orgon“ war für Reich eine Art stoffliche Bioenergie, die es freizulegen galt.

In seinem anderen berühmten Buch „Die Massenpsychologie des Faschismus“ untersuchte Reich die autoritären Charakterstrukturen der Menschen, die letztlich auch den Weg für den Faschismus geöffnet hatten und stellte sie in den damaligen gesellschaftlichen Kontext. Ich denke, beide Bücher sind heute noch anregend, gerade wenn man verstehen will, warum sich so viele junge Männer weltweit brutalisieren und allein oder in Gruppen, freiwillig oder auf Befehl Gewalt ausüben. Auch und gerade in Deutschland und Europa.

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