Petroleo und Misakatzi

P

Eine Märchenstunde

Tja, so kann es gehen! Man steckt einfach nicht drin. Die Geschicke scheinen sich manchmal auf mysteriöse Weise zu verselbständigen, selbst wenn es, ziemlich banal, nur um ein Stück Kuchen oder die Tickets für Bahn und Bus geht. Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt, heißt es doch so schön unschön. Plötzlich sind genau da Wolken, wo eben noch die Sonne schien. Und man fragt sich: Verflixt, wieso widerfährt mir das, habe ich das verdient? So ging es auch Petroleo und Misakatzi, deren kleine Geschichte ich erzählen will. Dauert nicht lange, wenn Sie mich nicht unterbrechen, keine Sorge. Wie bitte, Sie wollen die Geschichte trotzdem nicht hören? Ja gut, dann schalten Sie doch ab, niemand zwingt Sie dazu. Dann berichte ich halt für Andere! Oder diese Geschichte geht mit mir unter, so wie die schwierige Bachmann damals wollte, dass ihre Lyrik mit ihr untergehen sollte.

Also, kommen Sie, ich kenne den Petroleo schon lange, Misakatzi kenne ich eigentlich gar nicht, jedenfalls nicht persönlich. Sie werden sagen: seltsame Namen sind dies. Ja, sehr wohl, das stimmt. Und natürlich heißen die beiden, er ein Kerl mittleren Alters in der Regel mit City-Rucksack und sie eine Dame fast mittleren Alters in der Regel mit Regenschirm in meiner wundervollen Stadt, nicht wirklich so, wenngleich es ja durchaus der Fall sein könnte. Sie glauben gar nicht, was es alles für Namen gibt! Also, es sind jedenfalls die Kosenamen der beiden, wie sagt man, Protagonisten, genau! Ich für meinen Teil kenne nur Petroleo, der eigentlich Fred heißt und mit zweitem Vornamen Peter. 

Woher ich den kenne? Nun, es gibt in meiner Stadt eine, sagen wir es mal so, Lokalität, wo morgens um elf Uhr schon ein paar Leute drinsitzen, meistens ältere Männer, die ihren Rausch vom Vorabend durch etwas Morgenbier auszutarieren versuchen, gerne auch einen Rollmopswecken mit einer saftigen Spreewaldgurke dazu. Das hilft wie Medizin, sagt man, aber trotzdem sind da etliche, deren Köpfe eigentlich nur noch schwer auf den Tischplatten lasten. Vielleicht haben sie sich gar nicht volllaufen lassen am Vorabend, sondern leiden an quälenden Sorgen: das Geld, die Frau, die Zipperlein im Alter. Wer weiß! Die Luft wabert, es riecht menschlich nach Schweiß, gesabbert wird auch ein bisschen. Aber alles ist friedlich, es wird gelallt, geplaudert, okay, auch mal genölt oder gegrölt, aber selten. Wirklich, das ist so. Orlando, noch ein Bier und einen Mirabell dazu bitte! Kommt sofort, Schorsch! Paul, Du hast eigentlich genug, aber na gut…! Danke, ist wirklich der Letzte! Amen!

Nein, Petroleo ist so nicht, falls Sie dies denken sollten. Er kommt nur zweimal im Monat abends zum Stammtisch ins Einloch, so heißt nämlich die Spunte, wo sich die unterschiedlichsten, offensten und lebendigsten Leute der Stadt und auch von weiter weg ihre Schluckimpfungen reinziehen. Jedes Alter, Männlein und Weiblein, Kleine und Große, Dicke und Dünne, Arme und Reiche, Heitere und Ernste, alles vertreten, was das Herz begehrt. Dorthin gehe auch ich zum Stammtisch, wir sind fünf oder sechs oder sieben, je nach Lust und Laune. Und dort eben, in diesem Loch, diesem Vorhof zur Hölle, wie manche spötteln, mit drei Tischen vorne und drei Tischen hinten und einem anständig abgewetzten Tresen, hat mir Petroleo eines Abends, als wir noch zu zweit waren, die anderen kamen erst später, seine Geschichte erzählt. Auf Pfälzisch übrigens, denn er ist wie ich Pfälzer, gut, er Kurpfälzer, ich Pfälzer, aber das tut jetzt nichts zur Sache. 

Wie bitte, der Name? Unterbrechen Sie mich jetzt nicht! Ja ja, schon gut, Sie haben recht, dieser irre Name. Wie der zustande kam, das wollte ich noch erklären und dann kommt die Geschichte. Ich kann sagen, der hat sich einfach so eingebürgert. Der Petroleo sagte nämlich irgendwann mal in der Runde, dass er seinen Vornamen zum Teufel nicht mag, also den ersten. Er fände einsilbige Namen doof. Fritz, Ulf, Karl, Fred oder so, schrecklich, alles nichts. Han, Xi, Bo, Li, wir sind doch keine Chinesen, moserte er. Sie sollten ihn doch besser Peter nennen, Sie wissen schon, sein zweiter Vorname. Schon griente gleich einer, huhu, oho, Peter der Große, als just in jenem Moment der einzige Spanier zu unserer Runde dazustieß, der Juan, den wir jedes Mal gleich einem Ritual mit „Olé José“ im Chor willkommen heißen. Ein feiner Kerl, der immer etwas Spott abbekommt, das aber nie krummnimmt, was wir ihm hoch anrechnen: Hallo, amigo, was machen Deine Oliven, sind sie schon schwarz? oder: Tanzt Du uns heute einen Flamingo, ratatatam klack klack? kriegt er öfters zu hören. Jedenfalls lässt er sich nie was anmerken oder wir raffen es einfach nicht, wir müssten ihn mal fragen. Er sitzt einfach da und nippt versonnen lächelnd an seinem Anis de Mono. Aber halt, es geht jetzt nicht um den Andalusier Juan, von dem könnte ich natürlich auch viel erzählen, nein, es geht um unseren Peter. Um Peter, der Misakatzi traf.

Kurzum, Sie können sich denken, was noch kommt. Also zuerst die Sache mit dem Kosenamen. Peter war und ist ein armer Schlucker, denn seine Frührente, ein Unfall damals, ist arg knapp. Jeder vom Stammtisch weiß das. Das Problem ist, wenn man so ein paar Stunden im Loch sitzt, dann wird schon ganz schön Geld weggeschwemmt, runtergespült sozusagen. Und der Fred namens Peter hat ja keines. Der ist vom Prekariat. Nach dem zweiten Riesling ist eigentlich Schluss, und wenn dann die Runde noch feuchtfröhlich beisammen ist, pflegt Peter sein Sprüchlein aufzusagen, das jeder kennt. Wie bitte, Sie wollen was über Misakatzi wissen. Ja, Geduld bitte, unterbrechen Sie mich nicht ständig! Sie wollten die Geschichte doch eh nicht oder?! Also der Peter zieht dann seinen Geldbeutel hervor und deutet mit dem Finger in die gähnende Leere. Sagt mit klar und deutlich vernehmbarer Stimme zu uns: Leute, ich hab kein Öl mehr, alles weg, jetzt seid Ihr dran. Und ab solchen Momenten bekommt er dann auf Kosten von uns oder anderen Weinkennern, die sich gerade hinzugesellen, großzügig ausgeschenkt. Recht bereitwillig geht das ab, echt solidarisch, schön, das zu erleben! Noch zwei drei Rieslinge und ein paar Kurze, mehr braucht er nicht für den Rest des Abends. Ein Schmalzbrot mit Zwiebeln vielleicht noch.  

Wie, was? Seltsam? Weil er Öl sagt? Ja, so ist es, der sagt nicht wie andere: Ich habe keine Kohle. Man könnte heutzutage ja auch sagen, ich habe kein Gas, ich habe nur die Sonne im Herzen und lasse es ab und an kraftvoll winden, wenn´s nicht anders geht. Nein, er sagt, vielleicht weil´s geschmierter klingt, keine Ahnung, er sagt immer: „Ich habe kein Öl mehr, verzeiht! Aber ich wäre gerne noch mit dabei.“

Gut, ich merke, Sie werden ungeduldig, ich kürze besser ab, es war also damals so, dass sich in der Dynamik des Stammtischgeschehens die Wortsilben Pe-ter, Olé, Öl und dann auch noch Leo, der, immer und ewig der Letzte, auch noch gekommen war, akustisch verzwirbelt hatten. Und fortan war eben für uns Fred namens Peter der Petroleo mit der Betonung auf dem ersten o. Über die Zeit vergaßen wir, dass unser Kumpan eigentlich Fred Peter heißt. So war das, ich schwör es, also gewesen, dass der seinen Spitznamen abgekriegt hat. 

Dieser gute, aber zu Hause tiefeinsame Kerl, dessen Frau ihn vor zwei Jahren in Richtung Friedhof verlassen hat, sodass er seither alleine Radio hört, erzählte mir dann, ich erwähnte es schon, in ein paar ruhigeren Momenten seine Story, wobei seine Gesichtszüge, das Mienenspiel mitunter etwas verzerrt und ledrig ausschauten, während er zu mir sprach. Ab und zu pausierte er kurz und nahm einen großen Schluck aus seinem Schorle-Glas. Eine Art Geknicktheit, könnte man vielleicht sagen, war da zu beobachten gewesen, eine Betretenheit, die ich am Ende seiner Rede nach etwas Überlegung durchaus gut nachvollziehen konnte.

Sie werden sich jetzt fragen, was mit dieser Misakatzi los ist, der Name und so! Darauf komme ich gleich, das ist es ja, was mir Petroleo erzählt hat: wie er eines Tages, es ist gar nicht so lange her, mit dieser filigranen Frau mit hochgesteckter schwarzer Haarpracht, die mit leichtem Akzent gut Deutsch spricht, verabredet war. Wie er dann erst einmal Bus fuhr und hinterher staunte. Und wie sie ihrerseits mit der Bahn von der Arbeit, ihrem Musik-Kurs, zum „After Work“ aus dem Nachbarort nach Hause zurückfuhr. Um ihn zu treffen und zu tun, was sie ihm versprochen hatte. Die Spaghetti-Säule am großen Platz im Zentrum unserer Stadt war als Treffpunkt vereinbart. 

Wie? Komisch? Ja klar, sehr komisch. Aber so heißt jenes Aluminiumgestrüpp auf dem großen Platz nun einmal im lokalen Volksmund. Mit Spaghetti kann man halt viel machen. Man weiß ja auch, dass vor Jahrzehnten eine Menge Leute der schlichteren Sorte hierzulande spornstreichs in den Tessin aufgebrochen waren, weil zum Ersten April in der Presse gestanden hatte, dass die Spaghetti-Ernte dortselbst anstünde, dass die Bäume voll in ihrer Pracht stünden und pflückreif wären und man diesmal gratis ernten und mitnehmen dürfe, was in die Tragetaschen oder den Koffer passe. Ja sauber, die sind damals paar Jahre nach Kriegsende, als noch Hunger war, hingefahren, gar nicht so wenige, ob Sie´s glauben oder nicht! Ich weiß nicht, wie das dann…ach so, ich weiche schon wieder ab, entschuldigen Sie, jetzt haben Sie Recht, ich komme besser zur Sache. Salbadern sollte ich wirklich nicht, das geht ja jedem auf die Nerven.

Petroleo wollte also Misakatzi an der Spaghetti-Säule treffen. Ich glaube, es war ein Samstag, wenige Tage vor ihrer Abreise zurück in ihre Heimat, das Land der aufgehenden Sonne, wie er sagte. Es sollte das zweite Mal sein, denn sie hatten sich schon einmal zufällig gesehen, wenn auch nicht sonderlich lange. In einem Café. Er an einem der Nierentische, die es dort gibt, sie am Nachbartisch, wo sie sich ebenfalls an die Einbuchtung gesetzt hatte. Und bitte sehr, es ist doch logisch, dass ich jetzt erst einmal von jener ersten Begegnung der beiden erzähle und nicht gleich von der Verabredung am großen Platz. Also, was mir Petroleo davon mitgeteilt hat. Alles bitte weiter der Reihe nach, wenn es recht ist. Lehnen Sie sich zurück, beißen Sie in Ihren Schoko-Riegel und hören Sie einfach zu! Ich muss mich konzentrieren, damit ich nichts durcheinanderbringe.

Kurz und gut, der Petroleo, so sagte er es mir, machte sich von seiner Wohnung in Bahnhofsnähe auf, um sein Lieblingscafé zu besuchen, das er seit Jahren frequentiert. Er geht nämlich nur zweimal monatlich in die Pinte zum Stammtisch, aber dreimal wöchentlich Kaffee trinken und Zeitung lesen. Das Wetter ist gut, also beschließt er, die drei vier Stationen, die es mit der Tram wären, per pedes abzulaufen. Das Aquarium, so heißt das Café, liegt vorne am Fluss und man hat, wenn man einen Tisch direkt hinterm Glas erwischt, einen herrlichen Blick auf die Stromschnellen, die vorbeiflitzenden Ruderboote samt Insassen und sogar hin zur Alten Brücke, dem zweiten Wahrzeichen unserer Stadt nach dem Schloss. Warum das Aquarium so heißt, wie es heißt, fragen Sie. Na, ich sage doch, man hat einen wunderbaren Blick. Haben die bunten Fischlein etwa keinen tollen Blick aus ihrem kubischen Zuhause, selbst wenn der Glaskasten in irgendeiner Schlafzimmerecke steht? Die Leute nennen es Aquarium, weil es fast rundherum verglast ist, den wirklichen Namen beachtet niemand. Wozu denn auch?

Nach zwanzig Minuten hat er das Café erreicht, erzählt Petroleo weiter. Er geht rein und sieht sich um. Fast alle Tische sind mit je einer Person besetzt, er kennt es nicht anders. Meist sind es junge Leute. Er mag diese konzentrierte Stille, wenn die Gäste sich ganz und gar auf ihre aufgeklappten Laptops konzentrieren oder über die kleinen Monitore ihrer Handys wischen. Man hört dann – wie in einer Bibliothek, aber da geht er nicht hin – nur das leichte Surren, wenn das ein oder andere Gerät herauf- oder heruntergefahren wird. Manchmal ist man auch richtig überrascht, wenn irgendein Kaffeelöffel aus Unachtsamkeit des Handhabenden klimpernd zu Boden geht oder wenn, etwa bei einer Bestellung, doch ein paar Worte fallen: Noch einen Latte bitte und ein Croissant dazu. Sehr gerne. Oder: Ich möchte zahlen. Okay. Bin gleich da. Petroleo weiß, es ist auch heute wieder so und ist´s zufrieden, zumal ja noch Platz für ihn ist, da hinten rechts in der Ecke neben dem Tisch, wo diese Dame sitzt, die gerade ihren Tee und ein Stück Kuchen entgegennimmt. Er hängt seine Wildlederjacke, die ihm seine Frau vor Jahren geschenkt hatte, an der Garderobe auf und greift sich die Wochenzeitung am Holzbügel. Dann steuert er auf seinen Tisch zu und grüßt kurz seine Nachbarin, deren Doppelhaarnadel in Schwarz und Türkis im Gegenlicht der Lampe schimmert. Er legt seinen City-Beutel ab und nimmt bequem Platz. Sein rundlicher Bauch bildet mit der Tischform eine harmonische Einheit, während er das Journal aufschlägt und gedankenverloren blättert…

Kurz unterbreche ich Pet in seinem Bericht, weil es mich drückt und zwickt. Wir legen eine kleine Pause ein. Noch ist um diese Zeit das Einloch ziemlich leer, es ist früh am Abend. Als ich wieder am Tisch Platz nehme, füllt Orlando sorgsam unsere Gläser bis zu den Rändern nach, und Petroleo macht weiter. Ich höre ihm zu und bemerke, dass seine Miene entspannt ist, seine Augen aber manchmal ungewöhnlich flackern. Ab und zu klopft er zudem mit der Knöchelreihe der Finger seiner rechten Hand auf die uralte Holztischplatte mit den vielfältigen Gravuren, was er sonst nicht macht. Jedenfalls habe ich es so noch nicht bei ihm gesehen. Als wollte er um Ruhe und Aufmerksamkeit bitten, die ich ihm doch aber gewähre. Wie bitte, Sie ahnen, dass die Frau am Nebentisch im Aquarium Misakatzi war? Uff, Sie sind schnell im Kapieren, Volltreffer! Warum sollte ich da widersprechen? 

Sehen Sie, es war so gewesen:  Vier Wochen ist das jetzt her, meinte Pet, als er im Café sitzend seinen doppelten Espresso bestellte und, nach einem Blick auf den noch kaum angerührten Teller der Nachbarin, verbunden mit der Frage, was dies denn bitte für ein Kuchen sei, der sehe ja gut aus, sie ihm mit einem Lächeln geantwortet hatte, dass es eine Apfeltarte sei, die recht gut schmecke… also, dass er zum Käffchen dazu genau ein solches Gebäck orderte. Ohne Schlagsahne, wie sie auch. Nach dieser minimalistischen Anbahnung entspann sich ein Gespräch zwischen ihm und ihr, das sich wohl eher flüsternd entwickelte, denn, klar, die Ruhe des Raumes sollte nicht beeinträchtigt werden. Und die Mithörererei neugieriger Ohren ist meist eh ein als lästig empfundenes Phänomen. Sie kommentierten sich, wie man das so macht, zunächst das Szenario draußen, das sich vor ihren Augen entfaltete, den geschwungenen Berg mit dem berühmten Philosophenweg, den man bei genauerem Hinsehen identifizieren kann, das weiße Vogelvieh, das gerade als muntere Schar übers Wasser glitt, die mühselig flussaufwärts bewegten Tretboote, die Ausflugsschiffe mit den winkenden Passagieren. Sie erzählte ihm auch von ihrem Bratschenkurs, den zu geben sie auf offizielle Einladung hierhergereist war. Sie sei nur vorübergehend hier im Land, in der Stadt, bald müsse sie wieder zurück. Ans Konservatorium ihrer Heimatstadt. Immer wieder werde sie eingeladen, eine Fernpendlerin sei sie über die Jahre geworden.

Pet hingegen erzählte ihr, dass sein Alltag eher grau sei, dass er ihn aber auflockere, um nicht zu versauern, indem er eben ins Café gehe oder auch mal in eine umtriebige Kneipe, das Einloch, um die Freunde zu treffen. Ja, von dem weithin bekannten Lokal habe sie gehört, soll sie daraufhin wohlwollend gesagt haben, aber sie wäre noch nie drin gewesen. Es hätte sie schon interessiert. Bisweilen mit Worten pausierend verzehrten sie ihre Apfeltartes. Sie lobten die Konsistenz des krossen Flachteigs und die überraschende Frische der Äpfel. Pet erwähnte, dass er hier in der Stadt geboren sei und erfuhr von ihr, dass sie aus einer traditionsreichen japanischen Stadt komme. Plötzlich prustend vor Lachen fügte sie hinzu, dass manche Deutsche, denen sie hier begegnet sei, die Vorstellung hegten, dass dort die Samurai-Schwerter und Steinbeile förmlich noch auf der Straße liegen würden. So als wäre die Schlacht gerade erst geschlagen worden. 

Pet habe ihr amüsiert zugehört, sagte er, und gab mir zu verstehen, dass die Dame eine anheimelnde Ausstrahlung gehabt hätte, die einfach da gewesen sei und gewirkt habe. Es wäre da eine Art Magie im Spiel gewesen.  So jedenfalls drückte er es etwas angestrengt und zugleich lapidar aus. Das Journal hätte er dann weggelegt und sich ihr mit einer Drehung seines Körpers zugewandt. Schmeckt Dir der Kuchen wirklich, habe sie ihn schließlich gefragt, nachdem sie sich noch eine Weile über sein Leben hier in der Stadt und ihr Leben dort im fernen Japan ausgetauscht hatten. Klar doch, hatte er dann überrascht geantwortet, wieso fragst Du? Und sie ihm geantwortet, dass die Tartes schon nicht schlecht seien, aber dass dies kein Vergleich sei zu dem Apfelkuchen, den sie selbst immer wieder backen würde, etwa wenn ihre Freundinnen kämen. „Wir in Japan lieben Kuchen und Naschereien, wir lieben es auch zu backen, trotz der Hitze.“ Wie bitte, das mit dem Kuchen geht Ihnen langsam auf den Geist? Na ja, daran kann ich nichts ändern, aber geben Sie sich doch bitte nicht so bräsig, zarte Pflänzchen der beiderseitigen Fühlungnahme sollte man nicht im Keim ersticken! Oder?

Der schummrig gewordene „Salon“ des Einlochs, eher sollte man von „Saloon“ sprechen, füllte sich allmählich, bald würden auch die Stammtischbrüder erscheinen. Dann würde der Trouble losgehen. Ich brauchte Pet gar nicht darauf aufmerksam zu machen, dass er sich kürzer fassen müsse, wenn er wolle, dass ich das Ende der Geschichte noch erführe. Aber man könne ja auch beim nächsten Mal „Fortsetzung folgt“ machen. Er begriff, kratzte sich unruhig am Hals und fuhr mit deutlich erhöhtem Tempo fort, vom Ende seiner allerersten Begegnung mit Misakatzi zu erzählen. Und da fehlte eigentlich nicht mehr viel, bloß noch ihre namentliche Vorstellung, ihr Angebot und die Verabredung.

Kurzum, sie hätten im Café noch ein Weilchen über dies und das geplaudert und dann habe Petroleo, der gewiss kein zupackender Typ ist, den Moment gekommen gesehen, sich namentlich vorzustellen. Mein Name ist Petroleo, sagte er. Freut mich, Du kannst mich Misakatzi nennen, aber wieso Petroleo, fragte sie erheitert, solch einen Namen, verzeih, kennt man eher aus Fachbüchern für Ölkunde. 

Ich gehe davon aus, dass Sie jetzt nicht noch einmal die Entstehungsgeschichte des Kosenamens von Fred Peter hören wollen, bloß weil Misakatzi danach fragte und er es ihr erklärte. Nein? Wusste ich es doch! Ich verzichte also darauf und schildere Ihnen nur, was es mit ihrem Namen, halb Mensch, halb Tier, auf sich hat. Amüsiert habe sie nämlich darauf hingewiesen, dass dies seit kurzem auch ein Kosename, eben ihrer, sei. Eigentlich heiße sie, Misa…ka, Misa…ki vielleicht, Pet wusste es nicht mehr ganz genau. Im Café habe er neugierig nachgehakt, weshalb denn ausgerechnet „katzi“… Das hat mit „Kafka am Strand“ zu tun, gab sie schmunzelnd zurück. Pet verstand logischerweise nur Bahnhof, aber sie erklärte ihm, dass sie ihren Spitznamen von ihren Freundinnen erhalten habe, weil sie es nicht lassen konnte, immer wieder Szenen mit Katzen aus diesem berühmten Roman des noch berühmteren Schriftstellers Haruki Murakami zu kolportieren. Jene Begebenheiten nämlich, in denen ein gewisser Satoru Nakata, mit dem Kafka Tamura, ein 15-jähriger Junge, der von zu Hause ausgebüxt ist, durch ungewöhnliche Parallelereignisse verbunden ist, ohne ihm je persönlich zu begegnen. Herr Nakata, der im Krieg sein Gedächtnis verloren hat und Vieles nicht mehr kann, ist Katzensucher und immerhin in der Lage, mit Katzen zu sprechen. Diese surrealen Gespräche faszinierten Misakatzi, wie sie sagte, und sie sorgte mit diesbezüglichen Pointen, miau miau, in ihren Kreisen immer gerne für Erheiterung.

Pet kam nun zum vorläufigen Ende seines, sagen wir, Abenteuerberichts: „Wir waren einfach noch ein paar Minuten eher still, fast andächtig dagesessen“, erinnerte er sich, während sein Kopf leicht zuckte. „Wir schauten abwechselnd vieräugig aufs Wasser oder einander in die Augen, nickten uns zu, wenn sich auf dem Wasser etwas tat, die kleine Fähre etwa, die ans andere Ufer übersetzte, eine fröhliche Kindergruppe mit Schulranzen an Deck. Eine Stunde war auf diese Weise wohl vergangen. Schließlich erhoben wir uns, bezahlten, schnappten unsere Sachen und verließen gemeinsam das Café.“ Und er fuhr fort: „Als wir draußen standen, registrierten wir, dass unsere Nachhausewege in verschiedene Richtungen führten. Ich setzte an zu einem ausholenden „Adieu, es war schön, mit Dir zu…“, aber, stell Dir vor, sie unterbrach mich und machte mir dann geradezu mit einem Wortschwall ein überraschendes Angebot. Sie sei übermorgen, Samstag, nochmal in der Stadt, kurz vor ihrer Abreise. „Was meinst Du, magst Du meinen Apfelkuchen probieren? Ich decke den Biskuitboden mit einer hellen Fudge, arbeite einen pointierten Zimt-Geschmack heraus und nehme, wenn möglich, unsere Fuji-Äpfel, das sind die schmackhaftesten hierfür, ich karamellisiere sie und ich gebe etwas Nusssplit hinzu. Am besten schmeckt mein Kuchen lauwarm, das kannst Du Dir ja dann daheim herrichten, einfach kurz im Backofen. Ich werde leider in Eile sein, aber wir könnten uns drüben am Platz treffen, an der Säule, weißt Du. Dort steige ich aus der Straßenbahn. Es ist die Dreiundzwanzig. Kurz vor achtzehn Uhr komme ich an. Dann würde ich Dir den Kuchen geben. Einverstanden?“  

Hättest Du in diesem Moment abgelehnt, hättest Du dieses Angebot ausgeschlagen, Alex? fragte Pet mich. Oha, hallo, Sie sind ja auch noch da! Ob ich so heiße, wollen Sie wissen. Ja klar, warum nicht? Alex, so kennt und ruft man mich. Also zur Sache: Hätte Pet da nein sagen sollen? Na, sehen Sie, genau das meine ich auch. Und so war es auch gekommen. Pet hatte „sehr gute Idee“ und „Ist aber nett von Dir“ gesagt und freudig dankend angenommen. Dann waren sie ihrer Wege gegangen. Gleich nach dem „Tchüss, mach´s gut“, nach wenigen Metern, drehte er sich nochmal kurz um und sah sie mit ihrem bunten, etwas überdimensionierten Schirm entschwinden. Am Ufer des Flusses entlang. Kuma…to, irgendwie so! Japan! Japan? schoss es ihm durch den Kopf. Dann machte er, dass er nach Hause kam, die Melodie von „Ramona“, dem alten Schlager, summend und ein paar eckige Runden drehend. Warum gerade „Ramona“, fragen Sie? Das weiß ich nicht, vielleicht wegen der Zeile „Zum Abschied sag ich Dir Good Bye“ im Text. Einen Song namens „Misakatzi“ gibt es meines Wissens nicht. Und japanische Lieder kennt doch der Petroleo nicht. Kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen.

So war das also, so in etwa müssen wir uns vorstellen, dass es gewesen war. Und als nun Pet gerade anheben wollte, mir den zweiten Teil seiner Begegnung mit der Bratschistin zu schildern, wenigstens den Anfang noch, flog die Tür des Lochs auf und wie in einer Art Gänsemarsch stolzierten unsere Helden des Stammtischs herein. Sogar der Leo war diesmal gleich mit dabei. Wir einigten uns rasch auf das Fortsetzung folgt in der nächsten Woche und begrüßten dann unsere Freunde, Olé José und so weiter, während sie sich zu uns setzten. Orlando schmiss zum Einstieg mit einem „Volare, oho, cantare, ohohoho“ auf den Lippen eine Runde Underberg, und es wurde erneut ein feuchtfröhlicher Abend. Ich für meinen Teil war sehr gespannt, was mir Petroleo, den ich inzwischen in einem neuen Lichte sah, bei unserem nächsten Treffen noch auftischen würde. 

Wie bitte, Sie fragen mich, nachdem Sie das mit dem Kuchen überstanden hätten, was es mit den Tickets auf sich habe, die ich eingangs erwähnte. Na ja, langsam bitte, das mit dem Kuchen ist noch nicht ganz ausgestanden, wie Sie wissen könnten, und die Fahrscheine sind nicht vergessen, versprochen, denn die sorgten auf jeden Fall für Kopfschmerzen. Das war es ja eben, wie ich schon sagte, dass man manchmal nicht drinsteckt und sich das Geschick zu verselbständigen scheint, man zugleich aber gerne übersieht, dass auf längere Sicht alles von DEM DA OBEN, der uns durchaus liebt, nur manchmal mit uns hadert und auch schlechte Laune haben kann, recht gedeihlich eingefädelt ist. Oder sagen wir vorsichtiger: fast alles!

Zwei Wochen später traf ich Pet wieder in unserer Kneipe. Wir hatten uns auf einen etwas früheren Zeitpunkt verabredet. Alles war wie immer, das Lokal um diese Zeit noch eher leer. Petroleo saß schon da, als ich eintrat und spielte mit den Bierdeckeln. Er bildete Stapel, legte sie so auf die Tischkante, dass sie fast hälftig überlappten, wirbelte dann den ersten Stapel mit dem Handrücken hoch in die Luft und versuchte das Fünfer-Päckchen aufzufangen. Er hatte Übung darin und es gelang ihm gut. Genauso machte er es dann mit den anderen Stapeln. Fehlerfrei!  Ich setzte mich zu ihm und versuchte ihn zu toppen, indem ich zwei Stapel synchron hochwirbelte und auffing, einen mit der linken und einen mit der rechten Hand. Auch dies gelang. Kein Deckel flog woandershin. Ich grinste ihn an, und nach der Bestellung sagte ich zu ihm: „Leg los, Petroleo, ich bin gespannt, wie das mit Misakatzi ausgegangen ist.“

Und Pet legte in der Tat los. Er hatte nur darauf gewartet, dieses Zeichen zu bekommen. Erinnern wir uns! Die beiden hatten sich an der Spaghettisäule verabredet. Gut drei Wochen war das jetzt her. Pet schilderte nun in der ihm eigenen, detailverliebten Art, die ich hier vermeide, was sich ereignet hatte: „Die Zeit war gekommen, sie zu treffen, Alex. Ich machte mich also auf den Weg zum Platz. Da es kräftig regnete, nahm ich den Bus. Ich stieg vorne, wo der Fahrer sitzt, in den blauen Bus ein, denn ich brauchte noch ein Ticket. Diesmal hatte ich mich ausnahmsweise entschieden, eines zu kaufen. Du weißt ja, das mache ich sonst nicht. Ich fahre in der Regel zum Nulltarif.“

Man muss dazu wissen, dass der Petroleo vor Jahren finanziell durchaus besser ausstaffiert war, aber dann hat ihm, so sieht er es jedenfalls, das Finanzamt übel mitgespielt, eine fette Rückzahlung, und er hatte kurz nacheinander auch von der Polizei zwei satte Bußgeldbescheide erhalten, weil er in der Eile jeweils bei Rot die Ampel überquert hatte und dabei ertappt worden war. Versehentlich also, na ja, nicht ganz! Seither hat er die Faxen dicke und begeht absichtlich echte Regelbrüche. Er fährt sozusagen zum selbst erklärten Nulltarif. Irgendwie muss ja das Öl wieder reingeholt werden, sagte er mir.

Ich hatte ihn auch mal gefragt, ob er nicht besorgt sei, erwischt zu werden. Wie man da überhaupt ohne Sorge sein kann, pflichten Sie meiner Frage bei? Nun, genau das hat er mir erklärt: Er passt eben auf wie ein Luchs. Er guckt, ob die Controllettis am Bahnsteig stehen oder in der herbeifahrenden Bahn oder eben dem Bus schon warten. Und wenn die Luft rein ist, er hat dafür längst ein Näschen, dann steigt er ohne Ticket ein und dort unbehelligt wieder aus, wo er hinwill. Sitzt er im Wagen, linst er zu den Türen hin, ob jemand von denen an irgendeiner Haltestelle einsteigt. Er erkenne die Brüder schon an der Nasenspitze, die sehen doch alle gleich aus, meinte er. Nur wegen der Pandemie sei das jetzt halt schwieriger geworden, wegen der Masken.

In der Regel zahlt also der Petroleo nichts beim Fahren, aber manchmal bricht er seine Regel auch, wenn er gute Laune hat oder die Geldbörse mal wieder ein bisschen klimpert. Dann löst er großzügig ein Ticket und stempelt es am Automaten auch ab, wenn das erforderlich ist. Damit mal wieder alles seine Ordnung hat. So hatte er es mir erklärt, verstehen Sie?! Und Pet fuhr fort:

„Das Irre ist, dass mich der Busfahrer anschaute, als würde ich vom Mond kommen. Sie wollen ein Ticket, sagte er gedehnt, und schien dann zu überlegen. Ziemlich lange sogar. Ich kapierte nicht, warum. Schließlich sagte er „zweiachtzig“ und gab mir das Ticket. Ich zahlte und fuhr die paar Stationen, die noch fehlten, weiter. Als ich ausstieg, fand ich den Platz völlig leer vor. Er schien mir wie besenrein. Regen und Wind hatten sich inzwischen gelegt, aber gute Arbeit geleistet. Und nun hör zu, Alex! Ich stand also an der Spaghetti-Säule und wartete und wartete. Ich stand mir, wie sagt man da, veritabel die Beine in den Bauch. Und wer nicht kam, war Misa. Kein bunter Schirm weit und breit, auch nicht ihr hübscher Lodenmantel, Keine Handtasche, keine Haarnadeln, kein Apfelkuchen. Keine Misakatzi. Ich wartete noch die drei nächsten Bahnen ab, aber nichts. Sie kam einfach nicht. Nach geschlagenen fünfzig Minuten gab ich auf. Weißt Du, sowas soll´s ja geben, kommt schon mal vor, aber ich konnte es mir einfach nicht erklären, es gab keinen Hinweis, kein Signal. Irgendwas mochte ihr dazwischengekommen sein, aber was? Natürlich konnte sie es sich auch anders überlegt haben, aber etwas Menschenkenntnis habe ich schon, Alex, sie war wirklich sehr darauf erpicht, mich ihren Kuchen probieren zu lassen. Da war nichts geziert, das war authentisch gewesen im Café. Ich versteh´s immer noch nicht! Einfach Mist! So, jetzt weißt Du, was los ist, beziehungsweise, was nicht los ist. Das ist die ganze Story, schöner Anfang, öder Schluss!“

Und in der Tat, fühlen Sie sich da bitte mal ein bisschen ein, räusperte sich Pet, während er sein Fazit zog, mehrmals kräftig, um zu übertönen, dass er vor Enttäuschung hart schlucken musste. Teufel auch, die Chose war ihm sichtbar nahegegangen, das war nicht zu übersehen. Irgendwie machte ihn das fertig, die Sache mit der Sonne und den plötzlichen Wolken, wovon ich eingangs sprach, verstehen Sie?

Und der arme Kerl hatte sogar noch eine scheinbare Kleinigkeit draufzusetzen, die ihn letzten Endes auch gewaltig nervte. Er sei dann halt nach Hause gestiefelt und habe sich ernüchtert aufs Bett gelegt. Er habe zur Ablenkung die Zeitung aufgeschlagen und auf der Lokalseite folgenden Hinweis gefunden, den er dem Sinn nach zitierte:

„Wir vom ÖPNV weisen noch einmal darauf hin, dass das Fahren mit Bussen und Bahnen in unserer Stadt seit einem Monat und noch für einen weiteren Monat an den Wochenenden probeweise gratis ist.“

Gewiss, es war eine Petitesse, die Sache mit dem Ticket, ich gebe Ihnen recht. Aber bedenken Sie auch, wenn der Fahrer das bloß zehnmal am Tag macht, kommt schon was Erkleckliches zusammen. Öl ist Öl! Pecunia semper ölet, könnte man in Abwandlung des berühmten Spruchs sagen. Gut, sein eigener „Verlust“ hielt sich in Grenzen, aber so was noch oben drauf nach der Desillusionierung an der Säule? Schon bitter, meinen Sie nicht? Aber passen Sie auf, die Sache mit dem Ticket geht noch weiter, und übrigens auch die mit dem Kuchen, ich sagte es schon. Denn als Pet in seiner Erzählung an der Stelle angelangt war, wo er den städtischen Hinweis zum Öffentlichen Nahverkehr in der Zeitung zitierte, flog, Sie kennen das, die Eingangstür auf und herein kam unser Schmalhans Schorsch, der, während er sich im Gegenlicht zu orientieren versuchte, für Momente so aussah, wie Charles Bronson auf der Pirsch, nur dass Cowboyhut und Colt fehlten. Dann folgte Paul sowie nach und nach wieder der Rest der Truppe. Juan diesmal allerdings nicht, warum auch immer.

Es wurde ein leutseliger Abend bis weit über die Sperrstunde hinaus, und das hatte vor allem folgenden Grund: Orlando, der diesmal Spätdienst hatte, war inzwischen auch eingetroffen und nahm die neuen Bestellungen entgegen. Als Petroleo dran war, sah er diesen prüfend an, zog ein Papier aus der Gesäßtasche seiner Jeans, offensichtlich ein Brief. Ein Brief für Pet, ein Brief aus Japan. Der ist wohl für Dich, meinte Orlando, wir hätten ihn fast entsorgt. Pet griff perplex zu und wollte aufstehen und nach draußen gehen, als unsere Meute auch schon brüllte: Vorlesen, vorlesen! Pet gab klein bei und gab mir den Brief. Und nachdem ich ihn mit lauter, manchmal belegter Stimme verlesen hatte, musste der wie in einem Blitzgewitter erstrahlte Petroleo den Beifall klatschenden Kumpanen noch ganz viel erläutern, bis sie verstanden. Klar, das kennen Sie ja schon! Aber gehen Sie jetzt bitte nicht einfach schlafen! Lesen Sie noch den Brief, denn es ist der Casus Knacksus dessen, was ich Ihnen dargelegt habe.

Lieber Pet,

dieser kleine Brief erreicht Dich, wenn ich Glück habe, in Deiner Kneipe. Einen anderen Kontakt habe ich nicht. Ich bin sehr traurig, denn ich konnte Dich neulich nicht treffen. Sicher hast Du an der Säule gewartet. Als ich, verspätet um eine geschlagene Stunde, ankam, warst Du nicht mehr da. Das ist verständlich. Leider wurde ich aufgehalten. Du musst wissen, ich bin ein Mensch, der die Regeln streng beachtet. So sind wir halt. Immer habe ich einen ganzen Stapel Fahrscheine in meiner Handtasche, damit nichts anbrennt, wie Ihr doch gerne sagt. Aber diesmal kam es anders. Ich saß in der Bahn, noch fünf Haltestellen bis zum Platz. Da kam ein Kontrolleur auf mich zu. Er sah nicht gut aus. Ein schwerer Typ mit schwarzer Lederjacke und einem Adler-Tattoo am Hals. Er wollte mein Ticket sehen. Es durchfuhr mich siedend heiß, ich hatte den Schein nicht abgestempelt. Einfach vergessen, was ich ihm auch sagte. Das behauptet jede und jeder, meinte er kurz angebunden, 60 Euro bitte! Da ich nicht genug Bargeld hatte, hieß er mich an der nächsten Haltestelle aussteigen und begann mit den Formalitäten: Aufnahme der Personaldaten, Unterschriften und noch eine Belehrung. Es dauerte lange, zu lange, bis ich weiterkam, und ich dachte dabei daran, wie Du auf dem Platz stehen und warten würdest. Es tut mir leid, es war meine Schuld. Ich hatte den Kuchen natürlich dabei.

Du, Pet, ich muss Dir aber noch was schreiben. Heute, just heute früh, bevor ich diesen Brief schrieb, stell Dir vor, bekam ich Nachricht von meinem Institut. Es war eine Einladung, dass ich ein Konzert mit Eurem Städtischen Orchester geben soll. Und zwar ziemlich bald, nämlich zum Hanami, dem Kirschblütenfest, das ihr vor Ort ja auch feiert, wenn auch nur im Kleinen. Ist das nicht toll? Es ist ein Traum! Kommst Du in mein Konzert? Treffen wir uns danach? 

Das kleine Kätzchen
am Waagebalken baumelt
Der in die Luft ragt.

Auf bald. Misa

Kommentar hinzufügen