Der erleuchtete Augenkundler

D
Adiós, padres y hermanos, trozos del alma mía,
 Amigos de la infancia en el perdido hogar,
 Dad gracias que descanso del fatigoso día;
 Adios, dulce extranjera, mi amiga, mi alegria,
 Adiós, queridos seres, morir es descansar.

Lebt wohl, Eltern und ihr Geschwister, Teil meines Selbst;
 auch ihr Freunde aus der Kindheit verlorener Heimat.
 Dank für die Einkehr der Ruhe nach den Mühen des Tages!
 Leb wohl, süße Fremde, meine Freundin und meine Freude,
 lebt wohl, ihr meine Liebsten, sterben heißt schlafen.

 Letzte Strophe aus: José Rizal, Mi Ultimo Adiós
 (Übersetzung: Dietrich Harth, Heidelberg) 

Ein Sommertag im vorübergehend aus der Betulichkeit erwachten Heidelberg am Neckar mit der Alten Brücke, dem Philosophenweg, dem Schloss. Der Flaneur – es gibt dort viele dieser migrantischen Spezies – hat ein paar Stunden lang die Altstadt mit ihren pittoresken Gassen durchstreift und befindet sich auf dem Heimweg. Die Sonne wärmt den Sonntag angenehm. Gleich zu Beginn der Bergheimer Straße, einer der fünf Ausfallstraßen aus dem Zentrum, hält er an einem sandsteinfarbenen Gebäude ein, in dem heute Alternsforschung und Sozialwissenschaften betrieben werden. Früher war es das Institut für Medizinische Psychologie, das zum Universitätsklinikum gehörte. Eine schwarze Gedenktafel links neben dem Haupteingang, die ihn mit goldener Beschriftung anblinkte, nahm seinen Blick gefangen. Er, der langjährige Heidelberger, hatte sie noch nie bemerkt. Nun steht er ruhig da und liest aufmerksam:


Dr. JOSÉ RIZAL
1861 – 1896
Philippinischer Nationalheld
Hier, Bergheimer Straße 20, praktizierte
Rizal Augenheilkunde von Februar bis August 1886
unter Prof. Dr. Becker Direktor der Universitäts-Augenklinik


Die Philippinische Botschaft hat die Tafel am 19. Juni 1960 anbringen lassen, stellt der Flaneur, der in den Zeiten der Achtundsechziger Revolte in Heidelberg studierte, weiter fest. Eine solche Tafel gibt es auch in der Altstadt, wo Rizal zeitweilig in der Grabengasse und in der Karlsstraße wohnte und sich mit Burschenschaftlern und Pastoren traf. Nur fünfunddreißig Jahre ist der Held alt geworden, also noch deutlich jünger zu Tode gekommen als etwa Rudi Dutschke, der mit Neununddreißig an den Folgen des Berliner Attentats starb, denkt er. Drei Kugeln hatten den Rebellen in Berlin damals getroffen. Oder Che Guevara, der im gleichen Alter im bolivianischen Hochland von einem Soldaten auf Befehl von oben erschossen wurde. Und es kommt ihm der in der Szene bekannte Spruch von Eugen Leviné in den Sinn: „Kommunisten sind Tote auf Urlaub.“ Der KPD-Politiker sprach ihn damals aus wie eine auch für ihn selbst
sich erfüllende Prophezeiung, denn er starb mit Sechsunddreißig. Verurteilt und erschossen in den Zeiten der Niederschlagung der Räterepublik.

Aber war Rizal denn überhaupt Kommunist? Wohl kaum, legt er sich die Dinge zurecht, und nicht einmal beim „Che“ oder „Rudi“ ist das ja ganz klar, jedenfalls unter Insidern oder Besserwissern. Der Kommunismus war zwar schon erfunden in jener Zeit Rizals, aber wohl noch nicht bis auf die Philippinen vorgedrungen, obwohl das berühmte „Manifest“ von 1848 rasch weltweite Verbreitung gefunden hatte und die Bände von „Das Kapital“ in Arbeit waren. Die offizielle Kommunistische Partei des fernöstlichen Inselarchipels, weiß er, wurde erst viel später so um 1968 gegründet, mitten in den bewegten Zeiten der Studentenunruhen und auf dem Höhepunkt des Vietnam-Kriegs. Ist vielleicht der Kubaner José Marti, ein Zeitgenosse Rizals, der passendere Vergleich, fragt er sich. Er hat keine Ahnung.

Der Flaneur, weißes Haar, leichter Bauchansatz, ungebeugter Gang, bleibt noch eine Weile nachdenklich stehen, dann zieht er eine kleine „Partagas“ aus einem Aluminium-Röhrchen, das er aus seiner Hosentasche fischt, heizt sie bedächtig an und spaziert paffend weiter. Ob man auf den Philippinen auch Zigarren raucht wie auf Kuba? Er hat davon nichts gehört, gewiss aber im nahen Indonesien mag es so sein, jedenfalls dort auf Sumatra, eben diese famosen Sumatras. Aber wenn Rizal kein Kommunist war, wofür hat er damals gestanden? Welcher Ideologie hing er an? Wofür kämpfte er auf welchem Entwicklungsstand seiner Nation? Mit der Waffe? Mit dem Wort? War er ein Freiheitskämpfer, fragt er sich, während er beiläufig die deftigen Auslagen einer feinen Metzgerei inspiziert – Nierchen, Kutteln und Gulasch in Einweckgläsern, Griebenschmalztöpfchen, Gewürzgurken. Für welche Freiheiten setzte er sich dann ein in seinem sicherlich harten Kampf, und warum, sinniert er, gilt er bis heute in seiner Heimat als nationaler Held, jener so ferne Kurzzeit-Heidelberger. Ein Ophthalmologe, ein Augenkundler!

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