Choochoo, der Nerd

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Gegenüber von meinem Balkon nach Westen hin, etwa sechzig Meter entfernt, steht ein schönes Nachbarhaus. Dort zieht alle halben Jahre ein neuer Mensch in die Wohnung im ersten Stock ein. Über der Anwaltskanzlei. Vor ein paar Wochen war es wieder soweit. Nun wohnt dort ein junger Mann so um die Dreißig. Ein SINGLE, wie es aussieht. Mir gefällt – in meinem Fall – der Ausdruck EINSIEDLER besser. Ich kann trotz der Distanz die riesige Terrasse seiner Wohnung gut sehen. Sie ist öde, verödet, weil noch nie jemand dort eine Pflanze aufgestellt hat. Es ist schlicht nichts auf der Terrasse. Halt, das stimmt nicht ganz, es muss irgendwo ein großer Aschenbecher am Boden stehen, aber ich kann ihn nicht ausmachen. Der Vormieter hatte immerhin eine metallene Grill-Anlage postiert, die aussah wie die Miniatur eines Atomkraftwerks. In den gut dreißig Wochen seines Daseins vor meinen Augen hatte  er den Grill gerade einmal angeworfen. Was mag ihn da getrieben haben? Ein Test vielleicht.

Der Neue nun, der junge Mann, tritt täglich erst ab 18 Uhr in Erscheinung. Vorher nie. Wahrscheinlich ist er bis dahin auf Arbeit. Fährt oder läuft heim, denke ich mir. Falls das Wörtchen „heim“ es trifft.  Und er wird dann periodisch sichtbar, obwohl man nicht in die drei großen Fenster seiner Wohnung hineinsehen kann. Sie sind mit Rollläden, nein mit einer Art Einfachgardinen, die aussehen wie vergilbtes Packpapier, von morgens bis abends auch bei Tageslicht und schönstem Wetter abgedeckt. Abends und nachts sowieso. 

Aber der Kerl, sichtlich ein Kraftpaket, erscheint. Er wird auf der Terrasse sichtbar und…manchmal auch hörbar. Jeden Abend ab 18 Uhr bis circa 22 Uhr. Immer im Abstand von etwa 30 Minuten taucht er auf. Er öffnet seine Tür, die zur Terrasse führt und bleibt sofort stehen, fast noch drinnen im Türrahmen. Fast! Er raucht dann immer sich irgendwie launig biegend und streckend oder hin- und her wackelnd, jedenfalls stehend, eine Zigarette. Er schnippt die Aschen hin zum Boden, wo der Becher postiert scheint. Ich kann das, wie gesagt, nicht sehen. Er beugt sich leicht runter und schnippt. Auf den Ohren hat er gewaltige Schellen sitzen. Das sind gewiss Kopfhörer. Und er spricht, nehme ich an, in ein minimalistisches Mikrophon, das ich nicht erkennen kann. Aber ich denke, es ist da. Er spricht, aber ich kann ihn nicht verstehen. Nur manchmal ist er so laut, dass ich einzelne, nervöse Worte sogar auf die Distanz über den Schall im Zwischenhof hören kann: Ach was. Oh ja. Morgen dann. Gut so. Wirklich? Genau. Unfassbar. Cool. Nö. Halt. So nicht, so nicht, verstehst Du? Auch dies und jenes auf Amerikanisch. So fuck! Dann fuchtelt er mit den Händen und rudert mit den Armen – für Momente.

Niemals, ich schwöre es, niemals, hat er bisher den Türrahmen um mehr als einen Meter verlassen, hält sich eher noch dort fest wie ein Frischluft heischender Senior am Heimtor. Die Terrasse dürfte stattliche vierzig Quadratmeter haben. Er bleibt dort am Türrahmen für eine reduzierte Zigarettenlänge stehen, pafft, parliert, gestikuliert mitunter wild ins Off und nach sechs bis sieben Minuten, manchmal auch früher, geht er wieder hinein. Ich schaue mir immer wieder das Schauspiel an und sauge dabei grübelnd an meiner Romeo & Julia oder einer erschwinglicheren Quinteros. Was treibt diesen Choochoo mit zu frühem Glatzenansatz um?

Noch ein paar Wochen, Monate, wird er dann weg sein? Abgelöst durch den Nachmieter? Ich werde ihn vielleicht vermissen. Ganz vielleicht. Wie ein Salafist, ein islamistischer Schläfer, sieht er nicht aus. Eher wie ein Nerd, einer der Geschäfte macht dazu.

Und ich? Ich werde ihm, denke ich beunruhigt, über die Monate auf meine Art immer ähnlicher, ihn ständig beobachtend, stets an meinem Riesling nippend, meine Havannas paffend und innerlich über ihn schimpfend. Jeden Abend ab sechs. Nur ohne Schellen auf dem Ohr, aber mit feiner Musik im Ohr: Take Five oder Moon River! Wie lange hält er das durch, wie lange halte ich dies durch, ihn aus, diese tägliche Monotonie des Regelvollzugs? Der einem zähen Kampf zwischen uns gleicht, ähnlich dem des alten Mannes mit dem riesigen Marlin im Roman des raubauzigen Ernest Hemingway.

Hau ab, kocht es in mir hoch. Hau bloß ab! Hau endlich ab, verdammt! Ja, keep cool, sage ich zu mir, ist schon gut, ich gehe ja schon! Und dann bin ich es tatsächlich, der eines Tages weg ist. Schon seit Wochen nun in einer anderen Welt, einem anderen Stadtteil. Umgezogen, es musste sein, aber nicht wegen ihm. Ob er noch da ist, der alte Nerd? Mit seinem BlaBla und den Verrenkungen? Ohne meine für ihn sowieso unhörbare Musik: Chattanooga Choochoo

Jetzt in meinem neuen Wohnviertel und fürderhin habe ich Paul, den Schwarzen mit der blitzweißen Kappe und dem Pferdeschwanz bis zur Kimme, der immer am frühen Abend mit leicht tänzelndem Gang daherkommt. Paul, die Krabbe. Für mich heißt er so und ich kann ihn täglich von meinem Balkon aus sehen, wenn ich an meinem Riesling nippe. Ich sehe ihn von hinten auf der Bank im Park, wo er allabendlich für Ewigkeiten sitzt. Neben den zwei Dixie-Klos zur Blauen Stunde. Er scheint von hinten kopflos, da er stets mit gebogenem Hals nach vorne unten schaut, auf sein Smartphone. Ohne Ende schaut er, wenn er sitzt. Ein schlanker, jungalter Mann aus Afrika, die Beine wie zu einem Kreis aus zwei Scherenblättern geschürzt. Saguquga sathi bega nantsi Pata Pata! Da kommt er, da ist er wieder, der mit dem weißen Käppi, Handy in der Linken, Bierdose in der Rechten! Manchmal dreht er den Kopf und schaut zu mir herüber. Hallo! Prosit!

Hinweis des Autors

Indem ich im Juni letzten Jahres (2019) innerhalb meiner Heimatstadt umgezogen bin, habe ich auch einen ungewöhnlichen Nachbarn verlassen, der mir in Erinnerung bleiben wird…und einen „Zaungast“ hinzugewonnen…

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