BLUNTSCHLISTRASSE – DER LEBENSABEND

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Paul befand sich, so kann man es sagen, in einer mischpokischen Falle und aus solcher Defensive heraus gekonnt und erfolgreich zu agieren, war immer schon seine Stärke gewesen. Er würde diese Kompetenz wieder abrufen und, verdammt nochmal, aufpassen müssen auf sich und vielleicht auch wieder kämpfen. Auch und gerade in seinem Alter noch, er hätte sich gerne etwas Anderes gewünscht: in Ruhe gelassen zu werden!

Die Uraufführung der Tragikomödie hatte in seinem Fall damit begonnen, dass er auf dem Markt keine günstige Wohnung fand, seine Stadt gehört zu den teuersten Mietplätzen bundesweit. Immobilienspekulation, Kommerzialisierung und Gentrifizierung gehen auch in dieser Stadt Hand in Hand einher. Deshalb hatte er sich nach langer und vergeblicher Wohnungssuche bei der zuständigen Stelle im Rathaus eine Wohnberechtigungsbescheinigung besorgt, die er nach einigem Hin und Her auch bekommen hatte. Hierzu musste er viel beschriebenes und unterschriebenes Papier vorlegen, Formulare, Belege, Nachweise, aber es hatte sich alles noch in rationalen Grenzen gehalten. Er hatte somit einen Anspruch auf eine geförderte und für ihn bezahlbare Wohnung.

Die Enttäuschung folgte jedoch auf den Fuß, nämlich als er den zweiten Schritt unternahm und auf die zuständigen Baugenossenschaften zuging, was man ihm nahegelegt hatte. Diese wollten erst aktiv werden, wenn er einen Genossenschaftsanteil zeichnen und somit Mitglied werden würde. Sie wollten also erst einmal Geld von ihm. Er zahlte gehorsam und bekam nun den bedauerlichen Hinweis, dass es wegen des generell knappen Wohnraums Jahre dauern könne, bis man ihm eine Wohnung zuweisen würde. Wenn überhaupt jemals!

Das Geld wurde über die Monate knapper und knapper, und Paul wandte sich schließlich alarmiert an das Amt für Seniorinnen und Soziale seiner Stadt. Er beantragte eine Grundförderung für Senioren und bat um Unterstützung bei der Wohnungssuche. Nun setzte ein Circulus Vitiosus ein, der sich in einer Schriftwechsel-Stafette mit diesem Amt in verschiedenen Fachbereichen niederschlug. Zunächst erhielt er ein im Paragrafen-Deutsch gehaltenes Schreiben, dem eine Liste dessen beigefügt war, was sie von ihm wissen wollten. Insgesamt musste er fünfzehn Nachweise vorlegen, die er bis auf zwei, deren Sinn er nicht verstand, mühsam zusammensuchte und übermittelte. Drei Wochen später erreichte ihn ein zweiter Brief, in dem die zwei fehlenden Belege angemahnt und acht neue Informationshäppchen angefordert wurden. Er erfüllte auch dies weitgehend, als bei ihm weitere Wochen später ein neuer Brief des Amtes einging: „Bitte senden Sie uns die noch fehlenden Nachweise. Unsere Prüfung des aktuellen Informationsstands hat zudem ergeben, dass wir noch weitere Fragen haben. Bitte senden Sie uns binnen vierzehn Tagen noch folgende…“ Paul Schmeil tat, wie ihm geheißen, und schickte auch die gewünschten, sechs weiteren Dokumente an das Amt.

Sie präsentierten sich bei aller staubtrockenen Sachlichkeit ihm gegenüber also als das institutionalisierte Misstrauen, was Paul, je weiter die Dinge voranschritten, nur noch als Verachtung sich gegenüber wahrnahm, auch wenn dies subjektiv von den meisten Sachbearbeitern gewiss nicht so intendiert war. Er konnte sich zudem des Eindrucks nicht erwehren, dass sie ihn mit diesen massiven Beleganforderungen allein schon deshalb traktierten, weil es die relativ einfache und schnelle, digitale Verarbeitung der Daten inzwischen ermöglichte. Und die Datensammelwut war natürlich auch eine Folge des Hartz IV-Komplotts gegen arme Bevölkerungsschichten, selbst bei gealterten Leistungsträgern der Gesellschaft.

Sie wollten zusätzlich zum fünf-seitigen Formantrag seine lückenlosen Kontoauszüge der letzten sechs Monate und in diesem Zusammenhang auch einen Depotauszug über sein Bankenengagement, einer jener Begriffe, den man ihm erst hatte erklären müssen. Sie wollten diverse Informationen über seinen Rentenbezug, seinen letzten Einkommensteuerbescheid und noch dazu eine Bestätigung des Steuerberaters über sein Einkommen. Sie forderten diverse Vermögensnachweise an und verlangten, dass er seine Website im Internet löschte. Sie verlangten von ihm den Mietvertrag und zusätzlich eine Mietbescheinigung des Vermieters und wollten in diesem Zusammenhang Auskünfte über alle Details der Nebenkosten. Sie wollten eine Kopie seines Scheidungsurteils aus dem Jahr 2002 und Informationen über die Lebenssituation seiner studierenden Kinder und deren Mutter, Wohnadresse inbegriffen. Sie wollten die Lebensumstände und den Wohnsitz seiner verstorbenen Eltern wissen. Und all dies war längst noch nicht alles, die Informations-wünsche des Amts glichen einer wundersamen Belegvermehrung.

Schließlich rekurrierten sie auf seine häuslichen Sammlungen und schickten Paul einen Inspizienten ins Haus, obwohl er erklärt hatte, dass seine Sammlungen lediglich immaterielle Werte aufweisen würden. Die Bewertung solcher Sachverhalte solle er gefälligst ihnen überlassen, meinten sie daraufhin, recht kurz angebunden. Der Schnüffler kam also ins Haus und nahm sich die Sammlungen vor: seine Kleider, seine Bilder, seine CDs und DVDs, seine vielen Bücher, seine Briefmarken (auf der Suche nach irgendeiner Blauen Mauritius?), seine Sekt- und Weingläser (vielleicht waren ja welche mit Goldrand dabei). Der Wühler fand mit seiner Prüfung kein Ende und fand am Ende doch nichts Verwertbares. Paul fühlte sich schikaniert und hätte den Kontrolleur fast hinausgeworfen, aber es gelang ihm, die Contenance zu wahren. Wie konnte es bloß zu einer solch bürokratischen Pestilenz kommen, fragte er sich betroffen, während er sich erinnerte, dass er viel früher einmal, als er noch ein junger Mann war, einen existenziellen Durchhänger gehabt und Sozialhilfe für letztlich drei Monate beantragt hatte. Sein Antrag war damals innerhalb kürzester Zeit positiv beschieden worden, und das unkomplizierte Verfahren hatte ihn durchaus menschlich angemutet.

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