Coronanien und Covidiotien – der Lauf der Dinge

C

Eine Camouflage –  

Ich hatte eine Fantasie, einen Traum, und diesmal war die oder der gar nicht so übel. Generell ist es so, dass ich viel träume, mir aber der Story bzw. der Details nach dem Aufwachen oft nicht sonderlich bewusst bin. Ich erinnere mich an einen gewissen Hergang und auch an das meist zugespitzte Finale des Traums, nicht so sehr aber an die näheren Umstände oder an konkrete Personen, die mir bekannt wären. Irgendwie kommen diese mir schon bekannt vor, aber im Moment des Erwachens verschwimmt ihre Prägnanz. Die Deutlichkeit nimmt rapide ab und ich rätsle dann herum, um wen es sich handeln könne und was das alles zu bedeuten habe. Nur der Protagonist, ein Inkognito, bleibt mir auf unangenehme Weise immer präsent und vertraut.

Oft bin ich in diesen Träumen, die ich seit Jahren hege, in einer Halle oder in einem Haus eingesperrt, wo auch andere Menschen zugegen sind, Familien mit Kindern, Alte, auch junge Menschen. Ich kann mich frei bewegen, werde aber von diesem Personal ignoriert, das irgendwie normal vor sich hin, aber zugleich an mir vorbei lebt. Es herrscht auch im Inneren der seltsamen Lokation eine Art Hermetik. Und todsicher taucht dann nach einer Weile jener Riese mit seinem ewig grinsenden Gesicht auf, den ich inzwischen Gabriel nenne. Ich weiß nicht, wer er ist und ob ich ihm in der Wirklichkeit meines Alltags jemals begegnet bin. Er ist plötzlich da und beginnt mir nachzustellen, wobei er manchmal einen Prügel, manchmal eine Peitsche in der erhobenen rechten Hand hält. Der Kerl ist schnell und wendig, manchmal kommt er mir ganz nahe, aber immer entkomme ich ihm im letzten Moment, bevor er zuschlagen kann – sei es durch ein offenes Fenster, die Dachluke oder einen geheimen Tunnel, der sich mir eben noch auftut. Einmal gelang es mir sogar in einem verzweifelten letzten Moment, ihm einen heftigen Schubs zu geben, so dass er holterdiepolter rückwärts die Treppe hinunterfiel, die er hinaufgestürmt war, um mich zu erwischen. Fliehend hörte ich noch, wie er sich die Knochen brach und konnte schweißgebadet entkommen. Wieder einmal gerettet! Bis zum nächsten Mal.

Aber nicht von diesen Schlafvisionen möchte ich erzählen, sondern von dem eingangs erwähnten, dem gar nicht so üblen Traum, wenngleich es auch gar nicht so übel ist, wenn man in seinen Regelträumen immer wieder gerettet wird, sodass man sich schon fast darauf verlassen kann. Der lange Traum aber, um den es hier geht, war von neuer Qualität, und ich erinnere mich recht gut, dass er sich in etwa so abspielte:

An einem milden Wintertag saß ich am Küchentisch in meiner Wohnung und blickte abwechselnd auf den Monitor meines Fernsehers und durch das Fenster auf den nahen Park, wo die letzten Blätter von den Bäumen fielen. Vor mir hatte ich einen Teller mit einer spanischen Omelette zum Spätfrühstück platziert, auf der ich noch etwas frischen Dill verteilt hatte. Genüsslich hatte ich zu essen begonnen, als die Nachrichtensprecherin mit ernster Miene etwas Wichtiges ankündigte, nämlich die öffentlich geschaltete Bundespressekonferenz der Regierung. Es würde sich um eine Sonderkonferenz handeln, deutete sie noch an, als man auch schon die Kanzlerin mit ihrer Entourage in den mit Blumen, Girlanden und Fähnchen geschmückten Saal hereinkommen und vor das Mikrophon treten sah. Zu ihrer linken Seite nahmen der Gesundheitsminister und die Familien-ministerin, zu ihrer rechten Seite der Wirtschaftsminister und die Justizministerin in dem gebotenen Abstand Aufstellung. Niemand von ihnen trug diesmal einen Anzug bzw. die Frauen den üblichen Polit-Blazer. Nein, sie hatten sich merkwürdig langgezogene Westen angetan, aus denen bunte Stoffstriemen heraushingen, die, weil sie sich wie Fühler langsam reckten, wanden und zurückzogen, echten Tentakeln von Nesseltieren glichen. Über die Köpfe hatten sie sich zudem rote Zipfelmützen mit weißen Rändern gestreift, schließlich war die Adventszeit angebrochen.

Es wurde schnell deutlich, dass diesmal nur die Chefin über die Ergebnisse der „16 plus 1“, der Exekutiv-Group von nationaler Tragweite, berichten würde, von ihrer Sitzung also zusammen mit allen Ministerpräsidenten/innen – betreffend COVID 19-20 folgende. Die hinzugruppierte Ministerriege diente lediglich als Staffage und sollte dem Auftritt mehr Gewicht verleihen. Während ich die letzten Häppchen meiner Eierspeise vertilgte, wandte die Kanzlerin ihr Gesicht dem Mikrophon zu und nahm ihre schwarze Maske ab. Dann sagte sie, sich an die versammelten Presseleute und die Menschen in diesem unserem Lande wendend, nach kurzer Begrüßung mit ruhiger Stimme zum Ernst der Lage der Nation:

Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir eine sehr gute und fruchtbare Sitzung hatten. Zwar hat sie etwas länger gedauert, aber was lange währt, wird endlich gut, liebe Bürgerinnen und Bürger. Ich freue mich auch, dass wir in Bezug auf die von uns beschlossenen Maßnahmen, auf die ich gleich zu sprechen kommen werde, eine hohe Einigkeit erzielt haben. Wir haben dabei alle wirtschaftlichen, sozialen und natürlich epidemiologisch-virologischen Aspekte, die von Relevanz sind, wie immer einbezogen. Das Ergebnis kann sich meiner Ansicht nach durchaus sehen lassen, da es ausgewogen ist, auf Nachhaltigkeit abzielt und weiterhin die Gesundheit in unserem Land prioritär in den Fokus nimmt. Wir werden damit dem Ernst der Lage, wie sie nun leider schon seit fast einem Jahr gegeben ist, gerecht und bitten darum, nicht auf diejenigen wenigen Menschen zu hören, die aus ihrer negatorischen oder devianten Haltung heraus meinen, immer wieder Obstruktion betreiben zu müssen. Wir alle sollten und müssen nun wirklich konsequent zusammenstehen. Unsere Gesundheit ist in der Tat das höchste Gut, das wir haben. Es sollte deshalb jedem von uns plausibel sein, dass wir erneut handeln müssen. Und lassen Sie mich noch etwas hinzufügen! Die Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung sind Grundrechte von besonderer Güte, die unsere Achtung verdienen, unseren ganzen Respekt. Aber, meine Damen und Herren nicht just in diesen ernsten Krisenzeiten, zumal wenn sie von den Schreihälsen des organisierten Immer-Dagegenseins fahrlässig missbraucht werden. Das möchte ich hier noch einmal klar und deutlich sagen.

Ich muss mich im Bett kräftig herumgewälzt haben, jedenfalls entdeckte ich mich im Verlauf des Traums in völlig gedrehter Lage im Bett – mit dem Kopf am Fußende. Zunächst aber setzte sich mein Traum mit der Ansprache der Kanzlerin wie folgt fort:

Nun komme ich, meine Herrschaften, zu dem neuen Maßnahmenpaket, das wir beschlossen haben. Ich will es kurz machen und hier nur zusammenfassend das Wichtigste mitteilen. Die Details erfahren sie dann ja über die regierungsoffiziellen Kanäle. Zwar liegt inzwischen die Reproduktionszahl der Ansteckung konstant unter Eins und auch die Inzidenz hat seit Längerem nicht mehr den Faktor 50 erreicht und, ja, auch die Infektionszahlen auf der Grundlage der PCR-Tests sind nach unten gegangen und haben sich auf einem deutlich niedrigeren Niveau stabilisiert, sodass wir fast schon von Untersterblichkeit sprechen können, es gibt jedoch andere beunruhigende Anzeichen für eine drohende Fortsetzung der Pandemie, wie wir von der WHO und auch dem RKI vermeldet bekamen. Es ist nämlich leider so, dass das offensichtlich sehr wendige COVID-Virus inzwischen diverse Mutationen zustande gebracht hat, für die unser neuer Impfstoff, der ja erst in den nächsten Wochen oder gar Monaten breiter zur Anwendung kommen kann, nicht tauglich ist. Wir werden deshalb weitere öffentliche Hilfsgelder in die Forschung der dankenswerter Weise auch von vermögenden Philanthropen geförderten Impf-Netzwerke stecken – sowohl hier in Deutschland als auch Europa-weit.

Wir müssen also weiterhin frühzeitig planen und Vorsorge treffen und ich bitte Sie alle, liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen, um Ihr Verständnis und ihre einträchtige Mitwirkung. Wir haben angesichts der komplexen Corona-Gemengelage beschlossen, bereits ab übermorgen einen neuen Lockdown, wir nennen ihn „Perpetuus“, zunächst einmal unbefristet zu verordnen, damit wir nicht in eine Art Jo-Jo-Situation hineingeraten. Im Wesentlichen setzt der neue Lockdown die früheren Maßnahmen erweitert fort. Dabei bringen wir unser erneuertes Infektionsschutzgesetz regelkonform zur Anwendung und sehen auch die Anforderungen der Verfassung, äh, des Grundgesetzes voll gewährleistet.  Meine Damen und Herren, es gibt hierzu keine Alternative und insoweit erübrigen sich auch öffentliche Diskussionen über unsere Maßnahmen, ja sie verbieten sich geradezu von selbst in diesen harten Zeiten. Bitte befolgen Sie nun noch verantwortungsvoller als dankenswerterweise bereits bislang geschehen die AHA+L-Regel. Und übrigens, lassen Sie mich hinzufügen: Die Nutzung getrennter Betten zu Hause kann ja durchaus auch einmal eine heilsame Erfahrung sein, wie wir aus belastbaren Studien von Sexuologen und eigenen Erfahrungen wissen.

Zusätzlich verkünden wir im Rahmen des neuen Lockdowns eine Ausgangssperre täglich ab 22 Uhr sowie Stichproben-Inspektionen unseres städtischen Sicherheitspersonals in den privaten Haushalten und betrieblichen Büros, wobei wir in noch stärkerem Umfang als bisher schon Fachpersonal der Bundeswehr disponibel halten werden. Das ist wichtig und das ist richtig, meine Damen und Herren. Weiterhin gilt fortan: Demonstrationen und öffentliche Kundgebungen bedürfen grundsätzlich der Beobachtung durch den Verfassungsschutz und können wegen der Infektionsgefahr auf absehbare Zeit nur noch in höchst eingeschränktem Maße stattfinden. Wir haben überdies für Corona-Regelverstöße unseren bewährten Bußgeldkatalog angemessen erneuert. Und lassen Sie mich zu guter Letzt auch dies noch sagen:  Kitas und Schulen führen ihren Betrieb bei strikter Einhaltung der Maskenpflicht auf jeden Fall weiter, denn wir sind es unseren Kindern schuldig, ihnen auch in der Krise eine angemessene Bildung zu ermöglichen und ihre Zukunft nicht zu verbauen. Wir haben aus den ersten Krisenmonaten, als wir noch nicht genug wussten, gelernt.

Ich möchte an dieser Stelle abschließend noch meinem Unmut darüber Ausdruck geben, dass verschiedentlich in den Medien zu lesen und zu hören war, die Bundesregierung plane, die nächsten Bundestagswahlen in knapp einem Jahr wegen der Krise zu verschieben. Dies ist nicht der Fall, und eine solche Berichterstattung konterkariert auch unsere guten Ziele und Absichten. Natürlich können wir nicht ausschließen, dass unter gewissen Umständen einer forcierten Negativentwicklung der Pandemie selbst eine solche doch eher ungewöhnliche Entscheidung ins Auge zu fassen wäre, ich lehne es jedoch ganz entschieden ab, hierüber jetzt schon zu spekulieren. Und ich selbst, das wissen Sie ja und so mag es kommen, würde dann sowieso nicht mehr kandidieren. Bewahren wir uns jetzt bitte sehr einen klaren Blick auf die nächsten Wochen. Und tun wir jetzt bitte alle unsere Pflicht. Ich danke Ihnen allen.

Die Kanzlerin setzte ihre Maske wieder auf, wobei sie unwillkürlich Bewegungen machte, die die während der Rede etwas ermüdeten Tentakeln an ihrem Umhang wieder aufweckte. Langsam streckten und reckten sich die Fühler wieder hin und her, als sich plötzlich – für eine Pressekonferenz höchst ungewöhnlich – die fünf Regierungsvertreter/innen in einer Art von aufbrausender Gefühlswallung an den Händen fassten und, Sicherheitsabstände für Momente vernachlässigend, gemeinsam die Hoffmann-Hymne, das „Lieds der Deutschen“, anstimmten. Die Gruppe der fünf hochwohlmögenden Repräsentanten/innen machte zudem, wie einstudiert, eine synchrone Drehung nach links, vier von ihnen legten ihre Hände auf die Schultern der jeweiligen Vorderleute  und so verließen sie gemeinsam und seltsamerweise mit ihren Köpfen ähnlich dem Nystagmus von Straßentauben zuckend in einer Art Mini-Polonaise den hell belichteten Konferenzsaal, während sie den zweiten Teil des Lieds nach der Musik von Haydn intonierten. Einige der anwesenden Presseleute stimmten bewegt mit ein.

Einigkeit und Recht und Freiheit
sind des Glückes Unterpfand.
Blüh im Glanze dieses Glückes,
blühe, deutsches Vaterland!

Die prunkvolle Sitzung war vorbei. Und ja, ging es diesmal wie bei einer venezianischen Commedia del Arte-Aufführung zu, so verbreiteten die neuen Corona-Konferenzen ansonsten eine Atmosphäre, die in verlassenen Tiefgaragen vorzuherrschen pflegt. Auch auf Länderebene, und vor allem in meinem Bundesland, dem Ländle. So mancher Verkünder führte sich dabei auf wie der wieder auferstandene Sudel-Ede aus dem Osten. Das machte die Sache dann doch wieder heiter.

Mein Traum sollte jedoch erst noch seinen Höhepunkt erklimmen. Ich befand mich nun in einer leichteren Schlafphase, die, wie ich das eigentlich schon immer kannte, seit ich erwachsen geworden war, von einem stetigen Schnarchröcheln begleitet war, das ich manchmal selbst hören konnte. Diese Art des Schnarchens hatte früher die ein oder andere meiner Bettgenossinnen um den Schlaf gebracht und noch dazu in die Sorge versetzt, ich könnte ins Jenseits geraten, da mein Röcheln immer wieder aussetzte, indem ich ziemlich lange die Luft anhielt und sie dann explosiv bzw. mit pfeifender Lautstärke geradezu erlöst ausblies. Diese meine hochgradige Schlafapnoe hatte manche meiner nächtlichen Begleiterinnen so sehr beunruhigt, dass sie besorgt damit begannen, mir die Hand zu halten und den Puls zu messen, während ich weiterschlief, oder sich für den Rest der Nacht aufs Wohnzimmer-Sofa flüchteten. Nun jedoch war ich allein, störte niemanden und setzte meinen neuartigen Traum im Schlaf fort.

Die Worte der Kanzlerin hatten mich gerüttelt und geschüttelt. Ich befand mich in einem hoch erregten Zustand, der von dem sicheren Gefühl begleitet war, dass nun endlich etwas geschehen müsse. Ein weiterer Lockdown, erneut verschärft und ohne Befristung! Keinerlei Beteiligung der Legislative, des Parlaments! War dieses Parlament zur „Schwatzbude“ mutiert? Es sah danach aus – getreu dem bekannten Motto: Opposition ist sowieso Mist! Und dann noch diese merkwürdige Schlussanmerkung zu den Wahlen! Was lief da für ein Film ab? Hollywood, Cinecittà, Babelsberg? Was hatte die mächtigste Frau der Welt, was hatten generell die Mächtigen vor mit unserem Land? Wer führte eigentlich Regie, zumal es sich ja letztlich um einen weltweiten Vorgang handelte? Ich spürte, so konnte es nicht weitergehen, und ich beschloss zu handeln.

Schon in den letzten Wochen, als mehr und mehr  innere Skepsis in mir aufkam, hatte ich versucht meine Gedanken zu sortieren und stichwortartig zu Papier gebracht, was mir jetzt als Grundlage für eine Gegenrede zur bitteren Verkündigung der Kanzlerin dienen sollte. Es sollte bei genauem Hinsehen allerdings nicht so sehr eine Gegenrede sein, sondern ich wollte in gewisser Weise deutlich über das hinaus gehen, was die Mutter der Nation verordnet und verkündet hatte. Ich begab mich zu meinem Kleiderschrank und zog meinen alten grünen Parka aus den 68er Jahren hervor. Der müpfelte etwas, da er lange nicht gedient hatte. Ich zog ihn etwas umständlich an und setzte mir mein geliebtes altes Baskenkäppi aufs Haupt. Ich hatte in all den Jahren des Alterns kaum zugenommen und alles passte noch recht gut, auch zu meinem langen Bart. Ich legte die Kluft vorerst wieder ab.

Dann griff ich mir eine Montecristo aus dem Zedernholzkistchen, das immer griffbereit stand, heizte sie an und rauchte sie bis aufs letzte Drittel herunter, um mich mental zu ordnen und auf meinen Auftritt auf dem Balkon noch am heutigen Tag vorzubereiten. Sowieso vertraute ich inzwischen mit einem gewissen inneren Schmunzeln auf Immunitätsschutz durch derartiges Rauchen, zumal ich mitbekommen hatte, dass die Pariser Salpêtrière diesen vor kurzem in Bezug auf Corona in einer ersten Studie nachgewiesen hatte. Nachdenklich spazierte ich in Erwartung der bevorstehenden Ereignisse in meinem Wohnzimmer auf und ab.

Bild von Karlo Feder

Schließlich war ich bereit und drückte entschlossen den ROTEN KNOPF, der, eingelassen in die Wand des Hauptzimmers, seit einiger Zeit in jedem Haushalt vorfindbar war – ähnlich dem längst üblichen Rauchmelder, der mir das Rauchen und auch das Kochen in meiner Wohnküche vermieste, wenn er manchmal ganz unvermittelt losheulte, sodass ich schnell einen Besenstiel ergriff und die weiße Dose an der fernen Decke meiner Altbauwohnung andrückte, um wieder Ruhe herzustellen.

Der rote Knopf mit dem rK-Emblem, den ich mir vor Monaten hatte installieren lassen, war mit seiner Reichweite ein anderes Kaliber, sozusagen ein neomodernes Wunder der digitalen Kommunikationstechnik, das zum Zweck der Promotion direkter Demokratie grundsätzlich jedem Privathaushalt zustand. So bestimmte es inzwischen ein neuer Zusatzartikel im Grundgesetz. Das Schweizer Modell hatte Pate gestanden, nur die Technik kam hinzu.

Auf Rauch und Dunst reagierte der Knopf natürlich nicht, man musste ihn schon selbst für ein paar Sekunden andrücken. Bei der Einführung dieser Erfindung war es ihnen nicht primär darum gegangen, der Bürgerschaft ein Mitspracherecht nach dem Schweizer Vorbild einzuräumen; das war sekundär. Es ging darum, Geschäft zu machen. Denn der „Rote Knopf“ kostete einen stattlichen Betrag für das Gerät, die Installation und für die periodischen Fälle der möglichen Funktionsnutzung, zu begleichen in Kryptowährung an die Patentinhaber-Firma auf den Antillen. Viele Leute im Lande konnten sich solch einen basisdemokratischen Luxus nicht leisten und es gab auch keine Subventionen hierfür. Also verzichteten sie lieber. Auf den Wirtschaftsseiten der Medien war jedoch vor kurzem berichtet worden, dass immerhin zig-tausende Menschen in Deutschland diese teure Investition bereits getätigt hatten, was unterm Strich eine erkleckliche Summe an Einnahmen für die involvierten IT-Betriebe ergab  – ähnlich den zu erwartenden Pharma-Renditen aus den Impfdosen.

Man sollte sich eben schon gründlich überlegen, ob man sich tatsächlich dazu „versteigen“ wollte, zur Graswurzel-Demokratie. Hatte man nicht vor, selbst zu senden, so konnte man bloßer „Empfänger“ werden und sich basisdemokratische Weckrufe aller Art ohne erhebliche Zusatzkosten ins Haus holen. Auf diese Weise war man jederzeit sofort informiert, wenn einzelne Individuen glaubten, wichtige Dinge mitteilen zu müssen. Insoweit war der Rote Knopf also schon eine Errungenschaft. Es gab die Option für mehr Wachsamkeit.

Ich hatte mich nach der spätmorgendlichen Wortdusche der Kanzlerin etwas beruhigt und drückte, wie gesagt, nun also den Roten Knopf, bis mir ein kurzer Summton anzeigte, dass das ko-installierte Mikrophon aktiviert war. Damit war die Option hergestellt, Millionen meiner Mitbürger/innen direkt zu Hause anzusprechen. Ich machte fürs Erste nur eine kurze Durchsage, die da lautete:

Liebe Friedens- und Freiheitsmenschen im ganzen Land…ich spreche Euch alle auf diese Weise an, denn ich gehe davon aus, dass Ihr wohl alle dafür seid, diese Werte hochzuhalten und für sie aktiv einzutreten. Ihr habt sicherlich die heutige Pandemie-Rede der Kanzlerin gehört oder zumindest vom neuen Lockdown erfahren, den sie uns auf der Pressekonferenz der Regierung als alternativlos angekündigt hat. Kein Interruptus diesmal, sondern ein Perpetuus. Die rauchenden Colts dieser Regierung, die offiziell immerhin noch fast ein Jahr im Amt sein wird, riechen inzwischen leider etwas zu sehr nach Schwefel. Sie sind bei allem Bemühen um unsere Gesundheit auf eine dauerhafte Einschränkung unserer seit siebzig Jahren doch recht funktionstüchtigen Demokratie gerichtet – und dies über Corona hinaus. Man hat in gewissen elitistischen Gruppen unserer Gesellschaft anscheinend Lunte gerochen. Seit Monaten versetzt die Kanzlerin uns mit ihren calvinistisch inspirierten Askese-, aber auch Schreckensszenarien unter Strom. Die Stimmungsmacher der Leitmedien tun mit ihren notorischen Repetitionen ihr Übriges, uns Mantra artig zu hypnotisieren. Sie sind uns zu Leidmedien geworden. Ich kann dazu nur lapidar sagen: So geht Gesundheit nicht! Kein „weiter so“ in Richtung einer Verstetigung des scheinbar Vernünftigen! Wir sollten und müssen das vermeintlich Unabwendbare stoppen und unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. Lasst es mich, liebe Freundinnen und Freunde, so sagen: Das Virus ist zweifelsohne nicht ungefährlich, es gleicht einer heftigen Grippe. Aber diejenigen, die die Dinge um das Virusgeschehen steuern, sind beileibe auch nicht von Pappe. Denken wir doch nur einmal an die Kollateral-Schäden der Maßnahmenpakete, die sich immer deutlicher abzeichnen, jedoch mehr als fahrlässig unter den Tisch gekehrt werden. Stabile evidenzbasierte Risiko-Abwägung? Pustekuchen! Pfeifendeckel!

Die schon in den letzten Jahren vor den Corona-Zeiten ranzig gewordene demokratische Performance in unserem Land (und sowieso anderswo) bedarf einer kritischen Revision, ja eines klugen und besonnenen Ausbaus, bei dem es auch darum geht, dass die Existenz und die Rechte der vielen „Schwächeren der Gesellschaft“, wie es gerne wolkig heißt, nicht gänzlich an den Rand gedrückt werden. Das neue Corona-Virus muss bekämpft werden, klar, es darf jedoch nicht zum Feigenblatt verkommen, zum Feigenblatt für perpetuierte Alternativlosigkeit. Ich möchte Euch alle aus diesem Grund dazu einladen, noch am heutigen Tag zur Blauen Stunde auf rK-Empfang zu gehen, denn ich möchte Euch eine neue Strategie zum Umgang mit der Epidemie als Antwort auf den Wumms die Bumms-Lockdown vorschlagen. Diejenigen, die in meiner Heimatstadt oder in der Umgebung wohnen, möchte ich einladen, um 18 Uhr in den Stadtpark zu kommen. Ach ja, und bringt bitte jede/r einen Luftballon und eine Reißzwecke mit! Ihr werdet noch merken wofür? Ich möchte dann vom Balkon meiner Wohnung zu Euch allen sprechen. Ich freue mich auf Euch. Habt vielen Dank!

Ich muss wohl erneut aufgewacht sein, denn ich erinnere mich, dass ich auf die Uhr gesehen hatte. Es war erst kurz nach Mitternacht, stellte ich beruhigt fest und schlief sofort wieder ein, um mich der weiteren Dramaturgie meines Traums, der erst einige Minuten alt war, hinzugeben…

Nach meiner Ankündigung, jene Rede zu halten, verbrachte ich noch etwas Zeit damit, dieser mehr Schliff zu verleihen und wohlfeile Rhetorik-Passagen auszumerzen. Ich wollte es mir nicht zu leicht machen. Ich wusste seit der Lektüre von Wilhelm Reich um das Verführerische von Ansprachen an „die Massen“, auch wenn ich nicht sicher sein konnte, dass sich der Park vor meinem Balkon halbwegs füllen würde. Und ich wusste auch: Ein guter und geübter Redner war ich eigentlich nicht. Aber ich hatte eine Idee, eine gute Botschaft. Eine Weile lang las ich bei einer weiteren Zigarre aus meinem Sortiment, diesmal einer schlanken Corona, querbeet in alten Cicero-Texten aus meiner Bibliothek. All diese eloquenten und ausgefeilten Reden, die der blendende Rhetor damals im Senat in Rom gehalten hatte…! Hatte es sich für ihn „gelohnt“, wenn ich an sein grauenvolles Ende denke? War es den harten persönlichen Einsatz und das Risiko wert gewesen? Hat es dem Römischen Volk damals genützt oder gar denen, die sich später in ganz Europa auf ihn berufen sollten, um Demokratie zu bauen und Humanität in komplexe Gesetze, in Verfasstheit zu gießen? Ich sinnierte in meinem Sessel vor mich hin, dann ging ich unter die kalte Dusche.

Die Blaue Stunde nahte bereits, als ich, mich abtrocknend und aus dem Fenster sehend, mit Interesse bemerkte, dass sich einzelne Grüppchen aus verschiedenen Richtungen bereits dem Park-Areal näherten. Es war noch etwas Zeit. Ich bereitete mir einen starken Kaffee zu und während ich ihn schwarz trank, wurde es draußen lauter und bunter. Der Platz hatte sich innerhalb weniger Minuten fast schon gefüllt, Fahnen wurden geschwenkt, Transparente vor Kameras gehalten, Liedchen gesungen. Einige Menschen hatten ihre Tröten mitgenommen und bliesen pfeffrige Lang- und Quietschtöne zur Freude der mitgeführten Kinder, die zwischen den Großen Versteck oder Fangen spielten. Es herrschte ein lebendiges Treiben, bei dem die Leute sich dann aber bemühten, den gebotenen Anstand zu organisieren, sodass viele Neuankömmlinge gar nicht mehr in den Park vordringen konnten, sondern die peripheren Straßen und Gassen füllten. Einige radikale Lebewesen-Schützer skandierten: „Der Virus mag leben, der Rest der Welt soll´s auch.“ und ernteten vereinzelt irritierte Pfiffe, aber auch Beifall.Es waren gewiss mehrere tausend Menschen aus der Mitte der Stadtgesellschaft anwesend. Später würde die Polizei von dreihundert sprechen. Ich kannte das schon von den Demonstrationen aus rebellischen Frühzeiten, an denen ich in meiner Stadt teilgenommen hatte, wo ich seit fast einem halben Jahrhundert wohnte.

Nun war die Zeit für meinen Auftritt reif. Ich war bereit. Ich stellte meine Kaffeetasse in die Spüle und zog die bereit gelegten Sachen an. Um meinen Hals schlang ich einen kultigen Schal in bunten Farben, den mir eine Freundin geschenkt hatte. In die Tasche meines Parkas steckte ich meinen bewährten Flachmann, den ich mit Asbach Uralt gefüllt hatte. Dann ergriff ich mein altes Megafon, das ich zuvor auf Funktionsfähigkeit getestet hatte, verband es mit der neuen rK-Anlage und trat entschlossenen Schritts auf den Balkon. Während ich der Menge mit vorsichtig erhobener Hand zuwinkte, ging ein Raunen durch diese, das alsbald zu einem Jubelchor anschwoll. Es sprach sich darüber hinaus schnell herum, dass sich auch in vielen anderen Ortschaften des Landes die Leute versammelt hatten oder zu Hause auf Empfang waren. Die Erwartung an das, was ich zu sagen hatte, war sichtlich groß und stieß auf enorm breites Interesse.

Meinen linken Arm hatte ich übrigens bewusst sehr langsam angehoben und wie bei einem geschienten Armbruch angewinkelt gehalten, denn ich wollte den Medien und den Ordnungsleuten bzw. den Schutzmännern, die sich an den Ecken des Parks in Grüppchen postiert hatten, keinen Anlass geben, meine Handbewegung als Nazi-Gruß auszulegen. So etwas wäre zwar völlig konträr zu meinem Outfit gewesen und auch zu dem, was ich zu sagen hatte. Aber solche Taktik der Verunglimpfung von „Rädelsführern“, wie sie dann gerne genannt wurden, war ja neuerdings nicht ganz unbekannt. Man beschränkte sich nicht mehr darauf, dort zu ahnden, wo die zu Recht verbotene Geste absichtsvoll praktiziert wurde.

Nachdem ich die versammelte Bürgerschaft aufs Herzlichste begrüßt und für das zahlreiche Erscheinen gedankt hatte, gab ich ordnungsgemäß noch ein paar Hinweise zur Corona-Platzordnung und kam dann rasch zum Kern meiner eigentlichen Rede, die ich hier gestrafft wiedergebe:

Ich möchte meine Ausführungen, liebe Mitstreiter und Mitstreiterinnen in nah und fern, mit einem mehrfachen Nein beginnen, um dann zu meinem Vorschlag, zum Umgang mit dem neu verordneten Lockdown Perpetuus überzugehen. Nein, es trifft nicht zu, wenn einige Maßnahmengegner behaupten, wir würden jetzt in einer Diktatur leben. Wer solche Behauptungen aufstellt, sehe sich bitte mal in der Welt um. Wir hierzulande leben seit 75 Jahren nicht mehr in einer Diktatur und wer sie jetzt in Corona-Zeiten herbeiredet, der überlasse besser das Denken den Pferden, denn die haben größere Köpfe, wie mein verstorbener Vater gerne zu sagen pflegte. (Beifall und Gelächter im Park). Hier gibt es keine Folterkeller, keine Todesstrafe, keine marodierenden Paramilitärs und es wird auch nicht auf Demonstrierende geschossen. Und nein, die Kanzlerin, doch eigentlich eine Art Assistentin der großen Konzerne und Apologetin des Rüstungskommerzes, treibt uns auch nicht in den Stalinismus.  Und sie führt auch kein Kriegskabinett an. Wer so etwas hinausposaunt, was ja leider geschieht, hat nichts verstanden und huldigt der Ignoranz. Er outet sich als platter Demagoge, der, wenn er so lang wie dumm wäre, dem Mond Ohrfeigen geben könnte, wie meine verstorbene Mutter gerne zu sagen pflegte (großes Gelächter im Park). Und nochmals ein Nein! Das aktuelle Infektionsschutzgesetz ist nicht gleichzusetzen mit dem Ermächtigungs-gesetz von 1933. Wer sich zu solchen Vergleichen versteigt, der sollte seine Wortwahl prüfen und Nachhilfeunterricht in Geschichte nehmen. Damals war die Pandemie, die sog. Spanische Grippe, bereits vorbei gewesen, und es wurde ein Pimpf mit Schnurrbart zu totalitärer Menschenschinderei und Vernichtung ermächtigt, der sich mit seinem rassistischen „Mein Kampf“ einen fatalen Namen gemacht hatte. Und nein, Corona-Demonstrierende sind in Deutschland 2020 auch keine „Weißen Rosen“. Wer so faselt, den nennt man bei uns hier in der Pfalz mit Fug und Recht einen Blasarsch.

Aber, aber, aber! Zutreffend, liebe Seelen, ist, dass wir uns hier in Deutschland bereits seit langem, also schon vor Corona, in einer Phase des stetigen Auf- und Ausbaus von Sicherheitsstrukturen hin zum tiefen Kontrollstaat, hin zur digital komplett überwachten Gesellschaft befinden. Und es sieht ganz danach aus, dass die Corona-Pandemie vom herrschenden Block an der Macht dahingehend ausgereizt wird, all dies noch weiter zu forcieren. Alles selbstverständlich nur zu unserem Besten! (Pfiffe im Park) Wie ich heute Mittag schon sagte: Man hat sichtlich Lunte gerochen. Erinnern wir uns doch einmal an Nine Eleven! Man führte in der Folge bis dahin im Ausmaß und teils auch in den Methoden nicht gekannte Sicherheitsmaßnahmen in unserem gesellschaftlichen Alltag ein: Videogeräte  fast überall, die Kontrollgier der martialisch Uniformierten, schmerzhafte Sistierung durch Taser, Durchleuchtung mit Körperscannern, Aufrüstung der Sicherheitsapparate, das Abhören unserer intimsten Kommunikation, die Häufung der „finalen Rettungsschüsse“, etwa wenn vier trainierte Uniformierte einen verwirrten Alten stellen, der ein Messer dabei hat. Um einmal ein Beispiel zu nennen.

Man führte all dies über die Jahre ein und es wurde Praxis in unserem Alltag. Und wir nickten es mehr oder minder ab, denn man versprach uns, dass diese Maßnahmen wieder zurückgenommen werden würden, wenn die Gefahr vorbei wäre. Die Gefahr, so ahnen wir dunkel, wird aber nie mehr vorbei sein, wenn es nicht zu einer grundlegenden Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Lebens auf unserem Planeten kommt. Man sagt uns: „Die Welt ist halt so. Es ist der Zahn der Zeit.“ Sollen wir das so stehen lassen? Ich denke, das sollten wir nicht! Wenn wir uns selbst diese Dinge nicht bewusster machen und wenn wir signifikante Umkehr nicht einleiten, dann werden wir uns an das permanente Selektieren, Observieren, Sistieren und Kontrollieren gewöhnen, denn der Mensch tendiert zum Gewohnheitstier! Wir werden schlicht und einfach mutieren und uns als Bürger/innen so hausbacken, putzig und devot geben, dass die alte Biedermeier-Zeit dagegen wie eine rebellische Epoche anmuten wird. Die neuzeitliche Aufklärung wird uns dann als ferne Idee allenfalls noch in den Geschichtsbüchern begegnen, wir werden sie im Lauf der Dinge schlicht und einfach vergessen. Wir werden zu Bürgerfröschen mutieren. (Lautes und anhaltendes Gequake im Publikum, dazu hüpfende Bewegungen)

Mit Corona ist in den letzten Monaten eine geschürte Panik einhergegangen. Ich sprach bereits davon. Die Angst geht um, aber was ist das für eine Angst? Keiner wird doch abstreiten, dass uns menschlichen Wesen auch ein kleines „Fast-Nichts“, solange nur ein Funke Leben in diesem Wesen steckt, gefährlich werden kann. Wie bei anderen Grippen auch. Eben das Virus. Diese Angst ist also real und verständlich. Darüber hinaus gibt es, wie uns die Psychologen sagen, aber auch noch die neurotische Angst, d.h. eine Art Daueralarm-Zustand, der krank macht und der in uns von außen erzeugt wird, ohne dass hierfür hinreichend Anlass besteht. Das Verfahren, das sie, die Manipulatoren, dabei anwenden, ist folgendes: Es werden ein paar Zahlen, Inzidenzen oder Indikatoren in die Welt gesetzt und gebetsmühlenartig von morgens bis abends wiederholt. Dazu zeigt man uns, wo wir nur hinblicken, aufstrebende Diagramm-Kurven, hochgezoomte Großaufnahmen des Virus mit Tentakeln und nervt uns mit Corona-Ansagen, selbst in den Supermärkten. „1984“ lässt grüßen. Und zugleich Huxleys „Schöne Neue Welt“. Aus ihren Zahlen und Statistiken deduzieren sie oberlehrerhafte Behauptungen und Konklusionen, um ihr Handeln möglichst Debatten-arm zu begründen. Alternativlos natürlich! Es muss alles schnell gehen, sagen sie, und gerieren sich dabei auf paradoxe Weise immun.

Und klar: Wer wagt zu widersprechen, fällt in Ungnade, gilt als ignorant und dumm. Covidiotisch eben. Das Ganze geschieht notorisch, es wäscht uns die Gehirne, wenn wir nicht aufpassen. Sie wiederholen sich ohne Ende sogar bis in unsere Schlafzimmer hinein. Berieseln uns mit Requiems, Oratorien, Motetten. Sie, auch die Frauen, wissen als Politiker und Medien-Leute sehr gut, was wirkt. Sie treiben und schubsen uns, statt uns in unserer Besorgnis ernst zu nehmen. Beruhigend sprechen sie nur auf uns ein, wenn sie uns verklickern wollen, dass Shutdowns in all ihren Dimensionen nun mal sein müssten. Alles werde bei Befolgung bald wieder gut. Verdammt, sie reiten auf hohem Ross! (Beifall im Park).

Ich unterbrach an dieser Stelle meine Ausführungen am Balkon, denn ich bemerkte plötzlich, dass die Leute nicht nur zu mir, zum Balkon hinaufschauten, sondern noch weiter nach oben zum Himmel. Der Grund war ein großer Zeppelin, der für eine Weile über dem Park schwebte und auf dem in gut sichtbarer Leuchtschrift geschrieben stand: „PANDÄMONIUM. GOTT STEHE UNS BEI!“ In das O von „Gott“ war ein Gesicht eingeblendet, das wir alle nur zu gut kennen. Das Konterfei eines Abgeordneten der Großen Koalition, der seit Monaten in den Talkshows omnipräsent und zum Mahner der Republik geworden war. Der Zampano des Hygienestaats. Ein überraschtes Raunen ging durch die Menge. Für mich jedoch war die spektakuläre Unterbrechung, die kein Zufall sein konnte, eine gute Zäsur, denn ich wolle jetzt sowieso zum Kern meines Aktionsvorschlags kommen. Nachdem der Zeppelin verschwunden war, setzte ich meine Rede mit folgenden Worten fort:

Das Entscheidende ist doch dies: Sie sprechen nicht mit Zuneigung zu uns. Sie sprechen uns an wie Vertreter einer befremdlichen Loge aus einer fernen Welt. Wie von einem anderen Stern.  Sie ermächtigen sich, verlautbaren, ordnen an und drohen. Sie drohen und strafen. Die drei B, nämlich Beschwichtigung, Beruhigung und Begütigung sind nicht ihr Ding. Sie sagen, es gehe um unsere Gesundheit, aber man spürt, dass es ihnen eher um ein System geht. Es ist ihr System, das ihnen als relevant gilt. Sie mögen es ernst meinen mit der Gesundheit, aber sie übertreiben gewaltig und leider auch gewalttätig. Sie üben sich geradezu in Übertreibungskunst. Und sie spielen sich in ihren Ankündigungen auf wie Zuchtmeister. Wären wir Tiere, wären sie die Dompteure, selbst wenn wir Ameisen wären. Sie missverstehen uns als Ameisenzirkus. Kollateralschäden, welch ein Wort,  schrecken sie nicht auf, i wo.

Nun, es ist so, wir haben sie gewählt. Und wir können sie jetzt noch nicht abwählen. Das wissen sie. Viele von uns scheinen zudem an einer Art Stockholm-Syndrom zu leiden, obwohl unsere obersten Erzieher wahrlich keine Terroristen sind. Eher sind sie so etwas wie Handlanger unerreichbarer Mächte, deren Wirkmächtigkeit wir spüren, wenn wir die Börsennachrichten hören. Sie, die Erzieher und Erzieherinnen der Nation genießen es, wenn wir sie trotzdem mögen und ihnen vertrauen. Sie berufen sich ständig auf uns, die Bürger und Bürgerinnen im Lande. Sie tragen Verantwortung, wenn wir wie Kinder die Hände ausstrecken, auf die sie mit der Klatsche patschen, wenn sie es für notwendig erachten. Sie verfahren nach der antiken Devise: „Ho mē dareis anthrōpos ou paideuetai. Der Mensch, der nicht gezüchtigt wird, wird nicht geformt.“ Ihr Gestus, lasst mich das bitte so deutlich sagen, hat etwas Zwanghaftes. Wir kennen das, seit wir Freud kennen. Und das ist, denke ich, vielleicht das Erstaunlichste an dem ganzen Corona-Phänomen…dass ganze Führungsriegen und Kasten der Gesellschaft nach dem Ausruf der Pandemie durch die Weltgesundheits-organisation kollektiv in Zwangsneurose gefallen sind.

Sie, diese urplötzlichen Verantwortungsträger mit dem sardonischen Mienenspiel, sammeln und speichern weitgehend untaugliche, aber verführerische Daten wie Messis. Sie machen die Reinlichkeit zum Fetisch. Sie handeln wie ferngesteuert und wirken anal gestört. Das Desinfizieren scheint ihnen wichtiger als das Defäzieren (lautes Gelächter im Park). Andererseits halten sie schier endlose Sitzungen ab – alles für uns. Sie sind ungehalten und scharren mit den Hufen, wenn man sie auf ihre psychische Verfassung hinweist.

All das, und ich meine hier ihr Handeln in der Folge, muss ein Ende haben, auch wenn Zwangsneurotikern am Werk bekanntlich schwer beizukommen ist. Lassen wir uns nicht beirren! Wir holen uns unseren Lebensmut zurück und stehen für unsere Würde ein. Aber wichtig ist uns auch:  Wir verachten nicht und wir hassen nicht, selbst wenn sie die friedlich erregten Corona-Rebellen unter uns mit Wasserwerfern, Hunden, Reizgas, Einkesselungen und Drohnenspuk traktieren, was in mancher Szenerie doch schon ein wenig wie „Belarus light“ daherkommt.

Wir treten ihnen mit unserer neuen Aktion nicht einmal entgegen oder auf die Füße, könnte man in gewisser Weise sagen. Sie sind schließlich auch menschliche Wesen mit Hirn, Herz und Lunge, mit Haut und Haaren. Und man möchte bei genauerem Hinsehen nicht in ihrer Lage sein. Nein, wir sind nicht kontraproduktiv, wir kooperieren, wir gehen in die Erfüllung, ja Übererfüllung, das ist unsere Strategie, ich deutete es schon an. Was meine ich damit? Ich will es Euch sagen.

Ihr habt es gehört, die Kanzlerin will, dass wir uns in unsere vier Wände zurückziehen. Also tun wir genau dies. Wir gehen nach Hause und wir bleiben zu Hause. Auf unbegrenzte Zeit und freiwillig. Vorräte haben wir seit langem gehortet, Spaghetti, Senf und Ketchup, Saft und Schnaps, Klopapier, alles da. Wir gehen nicht mehr hinaus. Die Kanzlerin und ihre Crew möchten, dass wir Abstand halten. Das geht in Ordnung, wir gehen nicht mehr zur Arbeit, wir fahren nicht mehr und spazieren nicht mehr herum. Die Bahnen und Busse werden stillstehen. Die Flugzeuge sowieso. Wir gehen nicht einkaufen. Wir suchen das Vergnügen in der Öffentlichkeit nicht mehr, wir ziehen uns vollkommen zurück. Sowieso mögen sie es nicht, wenn wir feiern, wenn wir uns freuen und lachen. Unser Humor, den wir nicht verlieren werden, jagt ihnen einen Schrecken ein. Wir werden nun, das ist unser Plan, auf Hygge gehen, das vollkommene Hyggeling machen… wie man bei unseren Nachbarn in Dänemark sagt. Oder, wenn Ihr so wollt: Wir sind dann mal weg zur Siesta. Und das kann dauern!

Einige von uns mögen jetzt skeptisch sein, ob das alles durchzuhalten ist. Denen sage ich: Vertraut auf Eure Kräfte! Es ist ein großer Unterschied, ob einem die Quarantäne von außen unter Strafandrohung mit hohen Bußgeldern, ja mit Knast aufgezwungen wird oder ob man sich aus eigener Überzeugung, aus eigener Einsicht in sie begibt. Weil man wahre Verantwortung übernimmt. Weil es Rettung durch uns selbst sein wird. Es wird uns dabei jede Menge positive Energie, jede Menge Adrenalin zuwachsen, dessen bin ich gewiss. Durchhalte-Energie! Auch wenn wir Masken zu tragen gehalten sind, die nur taugen, wenn ihr Preis für uns zu hoch ist, werden wir einen langen Atem haben! (langer Beifall im Park)

Ich rufe ihn hiermit also aus: unseren Streik der Stille, unseren Ausstand des Stillstands allüberall (brausender Jubel im Park). Hic Rhodus, hic salta!, ruft uns der Grieche Äsop zu. Aber wir sind keine Prahlhänse wie jener Fünfkämpfer in der alten Fabel. Wir erfüllen, wir übererfüllen, wir machen – die Älteren unter Euch werden sich erinnern – „Dienst nach Vorschrift.“ (Applaus). Ja, genau das werden wir nun tun und lassen, und ja, nichts dagegen, wenn dies in anderen Nationen, gar weltweit zum guten Vorbild gedeiht. Warum sollte unser Land nicht auch mal ein gutes Vorbild geben?!

Lasst uns diese unsere Gelegenheit der Einheit bekräftigen, indem wir nun zum Abschluss unserer Vollversammlung wie zu einem Schwur zwei Dinge symbolisch tun. Ich erinnere zum einen an Eure mitgebrachten Ballons und die Piekser. Und zum anderen denke ich, es ist jetzt genau der richtige Moment, die bräsige, alte Hymne der Deutschen Nation durch ein neues Lied zu ersetzen. Jawohl, ein neues, ein bess´res Lied soll fortan erklingen. Ich danke Euch! Wir werden siegen, aber niemals triumphieren! Venceremos! Es lebe die Freude!

Ich gab den Versammelten noch ein paar organisatorische Hinweise. Dann sangen wir gerührt die neue Hymne, die wir uns so sehnlich wünschten: die ersten beiden Strophen der Kinderhymne von Bertolt Brecht und Hanns Eisler. Für eine Weile ließ sich, während wir sangen, eine zarte, weiße Taube auf meiner linken Schulter nieder.

Anmut sparet nicht noch Mühe,
Leidenschaft nicht noch Verstand,
dass ein gutes Deutschland blühe,
wie ein andres gutes Land.

Dass die Völker nicht erbleichen
wie vor einer Räuberin,
sondern ihre Hände reichen
uns wie ander´n Völkern hin.

Danach kam es zum letzten Akt der öffentlichen Aufführung, unserer Manifestation der Vernunft, aber auch des Schwurs. Die Leute hatten hierfür auf das verabredete Zeichen von mir gewartet. Es bestand darin, dass ich mein Sprüchlein aufsagte:

Wenn sie erleuchtet hell, die Birn´
Und es Klick macht in Deinem Hirn
Wenn Dir also Gutes widerfährt
Ist das schon einen Weinbrand wert.
CIN CIN!

Zum finalen Cin Cin, nahm ich demonstrativ nochmal einen kräftigen Schluck aus meiner kleinen Pulle. Und also stachen die Menschenkinder im Park und überall in diesem unserem Lande, den gemeinsamen Beschluss beeidigend, in ihre Ballons. Es gab allenthalben einen gewaltigen Serien-Knall, den man in meiner Stadt bis zum zwei Kilometer entfernten Rathaus gehört haben soll, wie später die Lokalzeitung berichtete. Der Pakt für das Leben war besiegelt. Ich zog mich winkend vom Balkon zurück. Die Leute schlenderten plaudernd und fröhlich gestikulierend nach Hause.

Der Streik der Stille hatte begonnen und entwickelte sich. Der Lauf der Dinge entfaltete seine natürliche Kraft…

„Wellenbrecher-Lockdown“ von Andi F

Nur das rat- und rastlose Hin und Her-Tapsen der Stiefel der Uniformierten der diversen Sicherheitsdienste sollte in den nächsten Tagen bisweilen vernehmbar sein. Ansonsten regte sich nichts, rein gar nichts. Alle, wirklich alle Räder standen still. Sogar der Wind machte mit, indem er stille hielt. Sowieso war das letzte Blatt vom riesigen Baum in der Nähe meines Balkons längst gefallen.

Es vergingen drei vier Tage, und am fünften Tag war es wohl gewesen, dass die Polizei in meiner Stadt und auch vor meinem Balkon mit ihrem Tatütata und Blaulicht Sonderstreifen fuhr. Aus den Streifenwagen-Fenstern ragten weiße Fahnen. Von Zeit zu Zeit hielten sie an und dann vernahmen wir hinter unseren Gardinen deutlich die Stimme des Sprechers:

Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei. Bitte achten Sie auf folgende Durchsage. Wir möchten Ihnen mitteilen, wir haben verstanden. Wir möchten Sie bitten, ihre Quarantäne aufzugeben und ihre Wohnungen wieder zu verlassen. Seien sie nicht besorgt, dies ist keine Evakuierung. Wir sind friedlich und alles ist freiwillig. Aber wir bitten sie inständig: Gehen Sie wieder zur Arbeit bzw. schicken sie ihre Kinder in die Schule. Zeigen Sie Patriotismus, indem Sie wieder einkaufen gehen, wie Sie es kannten. Machen Sie Ihre Besorgungen. Nehmen Sie Geld in die Hand! Und klar, gehen Sie in die Lokale, die wieder öffnen mögen. Trinken Sie Kaffee, ja, trinken Sie Kaffee. Oder gehen sie nach Lust und Laune im Park und in der Fußgängerzone oder wo auch immer spazieren. In kleinen Gruppen, in größeren Gruppen, wenn Sie möchten. Vielleicht mit etwas Abstand. Wiederbeleben Sie bitte unsere schöne Stadt, unser schönes Land. Gehen Sie auf Reisen! Ende der Durchsage. Vielen Dank. Ihre Pozilei, äh pardon, Polizei!“

Die Stimme aus dem Lautsprecher machte dabei einen gesitteten und kultivierten, fast schon melodiösen Eindruck, was neu war. Wir alle hörten es mit Freude, aber nichts regte sich, alles blieb weiterhin still, alle verharrten in ihren vier Wänden, blieben unsichtbar und schwiegen. Nichts geschah am fünften Tag und auch nichts am sechsten Tag. Außer dass sich die Durchsagen der Lautsprecher der Polizei gelegentlich wiederholten.

Eine Seniorin der Residenz am Park brach einmal für Momente unseren tagelangen Ausstand. Sie schrie, als ein Streifenwagen vorbeifuhr, aus dem Fenster: „Brot und Kuchen für die Polizei!“ Dann herrschte wieder Stille.

Am Ende des sechsten Tages war es, dass kam, was kommen musste, und ich gebe zu, ich hatte darauf gewettet. Ich erhielt gegen Abend einen Anruf der Kanzlerin. Bei unserem kurzen Telefonat hatte sie eine Stimme, die viel angenehmer klang als im Radio oder im Fernsehen. Sie räusperte sich kurz und erläuterte mit dann mit bemüht unaufgeregter Stimme, aus der diesmal auch eine merkliche Anspannung zu erahnen war, was sie auf dem Herzen hatte. Sie bat mich darum, in beiderseitige Verhandlung über die Corona-Krise einzutreten. Sie tat dies nicht devot, aber ich spürte deutlich, wie schwer ihr das fiel. Auf dieses Angebot der Kanzlerin, auf diese Bitte hatte ich gewartet. Ich signalisierte meinerseits Interesse und hielt zugleich dafür, dass diese Verhandlung von nationaler Tragweite nicht per Videoschalte ablaufen sollte. Ich schlug der Kanzlerin vor, dass wir uns in meinem Stadtpark treffen sollten. Es sollte aus meiner Sicht schon so sein, dass sie zu mir und nicht ich zu ihr kommen sollte. Denn es war klar: Sie wollte etwas von mir. Nicht umgekehrt, erst einmal. So waren nach Knigge-Manier eben die Regeln. Die Kanzlerin willigte auch sofort ein und wir verabredeten uns auf den siebenten Tag des Streiks, 12 Uhr im Zentrum des Platzes bei der Lagune.

Es kam jener denkwürdige Sonntag, der später als Happy Sunday in die Geschichtsbücher Eingang finden sollte. Ich hatte in Ruhe ein spätes Obst-Frühstück zu mir genommen. Dann spielte ich, meine Treffsicherheit schärfend, noch ein paar Runden „Moorhuhn“. Schließlich war es Zeit, in den Park zum vereinbarten Treffpunkt zu gehen. Ich war pünktlich und registrierte, wie die Rauten-Königin am anderen Ende des Parkgartens gerade auftauchte: Ihr Overall, ihre Bewegungen, ihr Gang, sie musste es sein, wer sonst?! Auch sie war pünktlich. Sie mutete in ihrer Erscheinung würdig an und irgendwie elementar. Wir waren etwa hundert Meter voneinander entfernt. Es herrschte Totenstille! Ein Entenpärchen hielt interessiert inne und starrte auf die sich anbahnende Szene. Die Glocken spielten 12 Uhr mittags. Ich erkannte alsbald klarer die Umrisse der mächtigsten Frau der Welt. Ihre Bodyguards waren nicht zu sehen, ich selbst hatte keine. Wir gingen mit gemessenen Schritten aufeinander zu, während ich auf dem Mundteil meines glimmenden Zigarillo-Stängels kaute. Sekunde um Sekunde schritten wir zwei schwarz Maskierten eine unsichtbare Linie ab. Die Kanzlerin war wegen der vielen früheren Staatsempfänge sichtlich darin geübt, wenngleich man dort im militärischen Pas de Deux zu schreiten pflegt. Sie sah mir, als wir uns einander näherten, konzentriert in die Augen, die unter meinem tief ins Gesicht gedrückten Borsalino hervorlugten. Ich fixierte ihre markanten Kinnränder, ihr Mienenspiel unter der breiten Krempe ihres schwarzen Huts, den sie aufgesetzt hatte. Von irgendwoher blies eine plötzliche Bö etwas Wegestaub auf. Die Wintersonne stand steil im Zenit. Wir hielten eineinhalb Meter voreinander an und zogen gemächlich unsere Masken über die Ohren ab. Wortlos standen wir dann eine Weile so da. Ein paar Kolkraben kreischten verschreckt in den Wipfeln eines nahen Baumes und verstummten sofort wieder. Vom Balkon des Altenheims am Park spielte ein nostalgischer Beobachter die elegische Titelmelodie aus „Der Clan der Sizilianer“ von seinem Handy-Verstärker ab, die Melodie mit der Maultrommel, die der erst kürzlich verstorbene Ennio Morricone erfunden hatte.

Guten Tag, Frau Bundeskanzlerin, ich freue mich, Sie zu treffen, schön, dass Sie gekommen sind, sagte ich. Ja, sagte sie, es ist gut, dass wir sprechen. Es erscheint mir sehr dringlich. Guten Tag. Wir gingen ein paar Schritte und setzten uns mit Abstand auf eine lange Bank nahe der Parklagune. Nachdem wir gemeinsam eine Weile schweigend auf das graue Wasser geblickt und auch ein paar Höflichkeiten ausgetauscht hatten, nahmen wir unsere Verhandlung auf. Hierbei entspann sich nun folgender Dialog:

Sie: Ihr, wie soll ich sagen, Streik, macht uns sehr zu schaffen. Es ist ja kein läppischer Poststreik anno dazumal. Das ganze Land ist beteiligt.

Ich: Wen meinen Sie mit „uns“, Frau Bundeskanzlerin?

Sie: Nun, die Regierung, die Siebzehn, mich selbst eingeschlossen. Die gewählten Volksvertreter/innen. Die Konzerne. Sogar die Börse ist zu, stellen Sie sich das vor!

Ich: Sie meinen die Exekutive? Wir versuchen, Ihre Anordnungen, die Verordnungen der Exekutive zu erfüllen und sind dabei ausgesprochen stringent. Das müsste Ihnen eigentlich gefallen.

Sie: Na ja, die Konzerne gehören nicht so wirklich zur Exekutive, wie Sie wissen. Die Börse auch nicht. Das Parlament sowieso nicht, vergessen sie das! Schauen Sie, man muss doch nicht übertreiben mit so einem Streik? Nirgendwo mehr gibt es blühende Landschaften, Sie verstehen! Und das nach nur wenigen Tagen! Wo führt das alles hin?

Ich: Das sehe ich auch so, seit Monaten sehe ich das so. Man muss nicht übertreiben, man sollte das rechte Augenmaß sowieso nie verlieren. Und ja, das Land steht still. Das Virus leidet.

Sie: Ja, so ist es. Alle leiden. So geht es nicht weiter. Die Vorräte werden knapp, wir waren hierauf nicht vorbereitet.

Ich: Wir schon!

Sie: Sie sollten jetzt nicht spalten. Auch die Eliten haben Grundrechte. Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.

Ich: Ich höre Ihnen gerne zu, Frau Bundeskanzlerin. Schon immer übrigens!

Sie: Mein Vorschlag wäre, wir heben den Lockdown jetzt mal auf und führen das gesellschaftliche Leben wieder in normale Bahnen.

Ich: Schön und gut, aber die Befugnis hierüber zu befinden, ist Ihnen, wie Sie sicher bemerkt haben, momentan entglitten. Das wird ohne „uns“ nicht mehr gehen. Es handelt sich also nicht wirklich um ein Angebot.

Sie: Ich verstehe. Was haben Sie vor?

Ich: Ich möchte Ihnen unsere Bedingungen nennen. Es ist ein Sieben-Punkte-Plan. Wird er von Ihnen, wird er von der Exekutive akzeptiert und umgesetzt, werden wir, wenn alles gut läuft, binnen drei Tagen wieder Normalität haben.

Sie: Was haben Sie vor? Was erwarten Sie?

Ich: Auch ich möchte Ihnen ein Angebot machen, ein reelles. Wir alle halten uns an die AHA plus L-Regeln, dies jedoch freiwillig. Wir sind verantwortungsvolle Menschen, ein paar Ausreißer wird es immer geben.

Sie: Hm! Nein! Ja! Gut!

Ich: Unser Plan sieht folgendes vor: Sie lassen den Souverän, die Abgeordneten des Bundestags, einberufen und verkünden im Rahmen einer Regierungserklärung in der Tat das Ende des Lockdowns. Ihre Minister und Ministerinnen sind anwesend. Hierbei verweisen Sie auf unsere Vereinbarung. Ich will nicht vermessen sein, aber ich denke, es stünde Ihnen sowieso gut an, sich dem Lockdown-Syndrom Ihrer Leute kurativ zu stellen. Zugleich ziehen Sie das neue Infektionsschutzgesetz bis auf die AHA plus L-Regel, die als Empfehlung bleiben sollte, zurück, was der Bundespräsident neu unterschreiben müsste. Alle weiteren Corona-Maßnahmen entfallen ohne Rest. Und lassen Sie uns gemeinsam den Schutz der Risikogruppe der Alten einfühlsam und zugewandt voranbringen, anstatt die Gefährdeten in ihren supervisierten Zimmerzellen einzusperren.

Sie: Ähäm….ich könnte den Bundespräsidenten zu überzeugen versuchen. Er ist auf unserer Seite und in der Lage, rasch zu handeln, wie Sie wissen.

Ich: Ich bin mir sicher, er wird zustimmen, ihm bleibt in diesem Fall keine Wahl. Und das ist auch gut so.

Sie: Wenn Sie meinen….

Ich: Lassen Sie mich fortfahren. Es wird Teil unseres Pakts werden, dass kein neuer Lockdown ausgerufen wird. Nie mehr aus solchem Anlass jedenfalls, es sei denn, die Pest oder Lepra kämen eines Tages wieder über uns. Aber von solchen Plagen sind wir ja weit entfernt. Ach, übrigens, haben Sie mal Camus gelesen?

Sie: Ja, „Die Pest“, ein aufwühlendes Werk. Ich las es als Gymnasiastin in der DDR, aber bei der Schulleitung meiner Templiner Oberschule war Camus nicht so beliebt. Er war Existenzialist. Man zog Anna Seghers vor.

Ich: Es sollte auch Teil unseres Pakts werden, dass Sie die politische Initiative ergreifen, die Kliniken mit mehr Intensivbetten und dem dazu gehörigen Personal auszustatten. Für alle Fälle. Das hatte Ihr Minister für Gesundheit schon früh angekündigt, aber weitgehend wieder vergessen. Erinnern Sie ihn bitte daran! Hierfür sollte eine Umwidmung eines Teils des Rüstungshaushalts der beste gangbare Weg sein. Und folgendes sollte sich, denke ich, von selbst verstehen: Sie, die Bundesregierung und die Landesfürsten, äh, pardon, die Ministerpräsidenten/innen, sichern bis in die tiefste Ebene der Gebietskörperschaften zu, dass Impfen gegen COVID 19 absolut freiwillig sein wird. Da soll und darf es keine Hintertür geben. Keinerlei Amtsanmaßung. Jeglicher direkter oder indirekter Corona-Impfzwang ist zu untersagen. Sie wissen, was ich meine. Niemand darf diskriminiert werden, der sich nicht impfen lässt.

Sie: Oha!

Ich: Sie und künftige Bundesregierungen sollten zudem mit guter Aufklärung das Thema Immunschutz gegen Viren und Bakterien in den Fokus rücken – kostenlose medizinische Angebote für Ärmere inbegriffen. Das ist Gesundheit! Vitamine, Heilgymnastik, Kuren, frische Luft, Interferon alfa2b. Vielleicht haben Sie von dieser kubanischen Errungenschaft gehört. Und die aberwitzige und kostspielige Corona-App wird natürlich gestoppt. Das sollte klar sein. Generell müssen künftig der Bundestag, die Landtage bei allen relevanten Entscheidungen in gesundheitlichen Krisenzeiten so beteiligt werden, wie es das Grundgesetz vorsieht. Ohne Wenn und Aber und eben anders als bisher. So viele lupenreine Demokratie sollte Ihnen möglich sein.

Sie: Gut, sehen Sie, mir könnte es ja fast schon egal sein, als Kanzlerin bin ich, um es salopp auszudrücken, bald weg vom Fenster, aber ich mache mir halt Sorgen, ich bin, hm, irgendwie schon einverstanden, nur das mit dem Impfen, verstehen Sie doch bitte, es geht um das Vermächtnis meiner finalen Kanzlerschaft, das ist so eine Sache. I´m not amused. Können wir hierüber nicht zu gegebener Zeit separat verhandeln? Es ist so, dass die Bundesregierung ja bereits Verträge mit diversen Impfstoff-Firmen und Logistikern geschlossen hat, also das wird ausgesprochen schwierig. Denken Sie bitte auch daran, was alles an Geldern nach Brüssel geflossen ist. Das wird eingefordert werden. Pacta sunt servanda, heißt es bekanntlich. Sie wissen doch, die Pharma-Industrie beherrscht ihr Latein. Sie wissen doch auch, deren Vakzine sind Maxime. Schon die Atomindustrie steht uns bereits auf den Füßen mit ihren Ausgleichsforderungen wegen der Stilllegungen ihrer Werke. Das kostet.

Ich: Nehmen Sie es mir nicht übel, aber das ist ganz Ihr Problem, Frau Bundeskanzlerin. Sie und der Finanzminister werden aber Wege finden aus dem Dilemma. Steuererhöhungen bei den unteren und mittleren Einkommensschichten sollten es natürlich nicht sein. Und erst recht nicht der frivole Corona-Soli, an den jetzt einige Verirrte denken. Ich hoffe, Sie verstehen. Es gibt, wie Sie sehr gut wissen, andere und angemessenere Quellen der Geldschöpfung, der…wunderbaren Geldvermehrung, die über Nacht wie Gott aus der Theatermaschine kam, nachdem jahrelang Beckmesserei und Knausrigkeit vorgeherrscht hatten. Soweit also mein Vorschlag, Frau Bundeskanzlerin. Nun sind Sie am Zug. Machen wir es kurz. Die Leute sind gespannt, aber sie haben notfalls große Ausdauer.

In der Zwischenzeit waren feine Nebelschwaden und ein paar Wolken aufgezogen. Drunten in unserem Park stolzierte auf einmal ein Nandu hinter einem nahen Gebüsch hervor. Die großen Augen auf seinem langen, geschwungenen Hals glotzten uns einen Moment lang neugierig an. Der lange, spitz zulaufende Schnabel war beeindruckend. Ich konnte im Augenblick des Geschehens eine geräuschvolle Flatulenz nicht unterdrücken, obwohl ich auf hartem Holz saß. Bemerkt zu haben schien es nur das große Vogeltier, jedenfalls verschwand dieses spornstreichs, wie es gekommen war. Die Kanzlerin schlug vor, einmal um die Lagune herumzulaufen. Dann wolle Sie mir definitiv mitteilen, wie Sie zu meinem Vorschlag stehe. Sie brauche immer ein bisschen Zeit. Danach würde sie sich verabschieden wollen.

So taten wir nun, erhoben uns und gingen los. Am Ende des kleinen Spaziergangs rang sich meine Verhandlungspartnerin ein Lächeln ab und teilte sich mir mit. Mir gefiel, was sie sagte. Sie schien verstanden zu haben. Am Ende tauschten wir zur Bekräftigung des Vereinbarten hübsche kleine Geschenke aus. Ich übergab ihr ein Kistchen mit innovativen Damen-Zigarren, einer ganz neuen kubanischen Kreation. Die Zigarren sind eher klein und schmal, verströmen keinerlei Geruch und schmecken ganz leicht nach Zimt. Sie zielen marktstrategisch auf giftfreie, rein orale Balance ab. Es war ein schmuckes Kästchen, das die Kanzlerin interessiert entgegennahm, um mir sogleich ihr Geschenk zu überreichen: einen Seifenspender aus Carrara-Marmor. Darauf lag ein Stück edle Seife mit den eingravierten Lettern AM-MV. Es handelte sich um ein Unikat, eine Sonderanfertigung des Chemikers an ihrer Seite. Ich dankte artig, dann ging sie ihrer, ich meiner Wege.

Der Deal von nationaler Tragweite war nun höchst offiziell, wenngleich noch nicht formell besiegelt. Das sollte Tage später kommen. Auf dem Weg zurück in meine Wohnung pfiff ich ausgelassen das Mundorgel-Motiv aus dem Seniorenheim vor mich hin und fühlte mich für Momente wie Lino Ventura und Alain Delon zugleich. Ich konnte ja nicht ahnen, dass meine  Malaise, meine turbulente Gemütslage nicht heilbar war. Aus meiner eigenen Sicht war ich natürlich nicht entzündet an der Seele, wieso denn auch! Und wer Visionen hat, geht eben nicht zum Arzt. Ich schaute schon immer gerne in klares Seewasser und verguckte mich immer wieder von Neuem. Die Suche nach Hilfe, nach kurativer Begleitung, erübrigte sich also, denn sie ist in solchen Fällen freiwillig. So lehrt es der Kodex.

Ich befand mich innerlich also in einem tiefen Rausch der guten Art. Die Menschen würden sich mit mir freuen, sie würden aufleben. Ich spürte, dass meine Zuversicht gerade exponentiell am Wachsen war. Ich spürte, dass alles eine zuträgliche Entwicklung nahm. Unsere Vernunft, die Vernunft der Wachen und Wehrhaften, hatte obsiegt. Wir konnten uns nun endlich wieder den Klimafragen, der Rückholung demokratischer Prozesse, der Situation des großen Prekariats und nicht zuletzt der Kapitalmarkt-Hygiene des Casino-Kapitalismus zuwenden. Das COVID 19-Virus würde sich in verträglichen Bahnen verlaufen und gelegentlich wiederkehren – wie alle Corona-Viren zuvor auch. Weihnachten konnte kommen. Der Karneval konnte kommen. Das Osterfest grüßte in der Ferne. Auch neuartige Viren, na klar, würden alsbald ihre Aufwartung machen. Wir wussten nun, was zu tun und vor allem zu lassen war. Wir würden weiter wachsam sein.

Als ich mich dem Haus näherte, in dem ich wohne, entschwand am Himmel über mir aerodynamisch knatternd der Helikopter mit der Kanzlerin.

Ich für meinen Teil jedoch sollte aus diesem meinem Traum nie mehr erwachen. Aus meinem Schlaf gleichwohl schon. Dies war ein paar Stunden später der Fall, als die ersten Tauben im Park zu gurren begannen und die Enten am Teich zum Morgengeschnatter anhoben. Die Sonne lächelte über den Balkon herein, als ob schon Frühling wäre.

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