Russenangstlust – ein essayistischer Gedanke

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W. Putin und seine Entourage, überhaupt Russland mit seinem grenzüber-schreitenden militärischen Parforce-Ritt, sind in diesen Zeiten von großem Übel für vor allem die Ukraine, für Europa, den Westen, weite Teile der Welt. Ziemlich einverstanden, werte Seher und Mahner in den Talk Shows hierzulande! Wenn-gleich es nicht das einzige Land ist, das sich so völkerrechtswidrig aufführt.

Es geht im kriegstüchtigen Wettkampf zwischen den Nationen aber um noch etwas anderes, was gerade uns in Deutschland besonders betrifft: Wer vormals jemandem, gar einem ganzen Volk, großes Leid angetan hat, der wird sich nach Vollzug in der Regel immer weiter darum bemühen, den Gegner zu verteufeln und in den Senkel zu stellen, weil das über Generationen verdrängte schlechte Gewissen in ihm nagt und er es auch mit der Angst zu tun bekommt. Nichts, was lange her ist, ist vergessen. Der ehemalige Aggressor braucht geradezu zwang-haft historische „Rechtfertigung“ und ringt dabei um so etwas wie Seelenfrieden. Das trifft auch kollektiv zu. Auch den Russen dürfte dies als Flash Back eines fernen Tages in Bezug auf die Ukraine bevorstehen.

Die Pflege des Feindbilds bis hin zur Verdammung wird vor diesem Hintergrund aber schnell zur Obsession. Also in diesem Fall der Deutschen, die seit 1812 dreimal an verbrecherischen imperialen Feldzügen in Russland mehr als beteiligt waren: unter Napoleon rekrutierte Truppen aus deutschen Ländern, Landser, Wehrmacht-Soldaten. So werden die stets wiederholten Beschwörungen „Die Russen kommen“ und „Putin, der Leibhaftige“ (noch jemand?) zum Menetekel hoch drei überhöht, denn dies ist längst in unsere militante DNA eingebrannt. Wir sind nun mal nicht eine von 25 aus 194 Nationen ohne Militär, mag man denken. Hinzu kommt als klassische Projektion diese subkutan wachsende Stimmung in den weniger feinen Sphären des Mainstreams: Jetzt zeigen wir´s dem Iwan, den Russkis endlich. Man verschafft sich Luft durch Potenzgebaren und das beißt sich auch nicht mit der allenthalben spürbaren generellen Verrohung unseres Gemeinwesens. Im Gegenteil.

Ist das alles schon Massenhysterie? Noch nicht ganz. Jedenfalls aber schon kate-gorische Furcht vor dem großen Angriff aus Moskau zu Luft, zu Land, zu Wasser und sowieso längst digital bzw. mit Drohnen, na klar! 2025, letzter Sommer in Frieden, wie ein Experte behauptet? Oder spätestens 2029, wie andere Beobachter meinen? Wir sind bereits im Krieg, verkünden manche Versteher. Dezidierter Friedenswille würde bei solcher Befindlichkeit nur stören, wäre „kontraproduktiv“, eine Begünstigung des Feindes.

Wir, die Deutschen, haben über die Jahrzehnte unseren Nationalsozialismus recht gut aufgearbeitet, leider aber nicht unsere notorische Russenangstlust, obwohl es eine Weile ganz gut aussah. Die lautstarke Frau Strack-Zimmermann, der stets gefasst, zugleich finster wirkende Herr Kiesewetter oder die Spitzen der Grünen, allen voran Anton Hofreiter und etliche immer etwas zu sehr dem empörten Ohnmachtsanfall nahe Damen, sowie eine Reihe offiziöser Militär-experten/innen namens Masala, Major, Mölling, Neitzel u.a. stehen lediglich exponiert und exemplarisch für dieses wieder allgemein gärende Phänomen in diesem unserem Land.

Das beziehungsreiche Reaktionsmuster hat obendrein den Vorteil, für neue Overkill-Standards herzuhalten und die Rüstungsaktienkurse in schwindelnde Höhen zu treiben. Boris Pistorius, seit längerem beliebtester deutscher Politiker, ist unser aller Zampano. Ihn bei seinen Auftritten entschlossen mit durchge-drücktem Kreuz und festem Blick zu erleben, beruhigt uns ungemein. Manche euphorisiert die neue Tapferkeit bereits, die Bundeswehr winkt plakativ in Schulen und auf Straßenbahnen mit flotten Karrieren; die Vermögenderen investieren in Bunker; nicht wenige preppen; als offizielle Trendmodefarbe 2025 gilt, prima passend, das tiefe Olivgrün.

Brennt in der Sahara ein Kiosk, es ist der Russe. Wird eine Pipeline am Boden der Ostsee gesprengt, es ist der Russe. Stagflation? Der Putin. Tönt Trump vom Frieden, hat ihn Putin am Wickel. Lächelt Xi, ist es, weil Putin ihm Laune macht. Selbst wenn dies alles genauso zuträfe, woher wissen wir Deutsche das immer so genau und sofort und nicht selten in vorauseilendem Gehorsam mit uns selbst? Soll Russischer Salat, ein Gericht aus alten Adelszeiten, noch so genannt werden, wie er heißt? Ukrainischer Salat vielleicht? Grübel.

Es besteht also wenig Hoffnung, dass uns dieses in der Feindbildforschung genauer beschriebene Overall Pattern etwas nachdenklicher machen könnte. Wir stellen uns taub und blind und blöken bigott im neuen Bocksgesang.  Und die medialen Inszenierenden gefallen sich dabei zunehmend in der Pose des uniformen Alarmismus. „Seid bereit, es ist soweit!“

P.S. Frage am Rande: Soweit ich weiß, stammt der hier ausgeführte sozialpsychologische Leitgedanke ursprünglich von dem englischen Staatsphilosophen Thomas Hobbes. Ich kann dies jedoch nicht durch ein Zitat belegen. Ich finde es nicht mehr. Kann jemand aushelfen? 

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