Kuriose in meinem Kiez

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Ein vollbärtiger alter Mann mit sehr kleinem Rucksack spazierte einmal auf dem Bürgersteig vor meinem Balkon vorbei und warf mit der rechten Hand immer wieder ein gelbes Bällchen auf den Boden, um dieses nach dem Rückprall sogleich wieder aufzufangen. Ich rätsle immer noch, warum er das tat. Langeweile? Balance? Manie? Es mutete erheiternd und spielerisch an. Bisher ist er leider nicht wieder aufgetaucht.

Ein anderer Mann, eher noch jung, erscheint täglich früh morgens in meinem Park, legt etwas Hab und Gut auf der Wiese ab und beginnt dann mit Teil 1 seines Rituals. Es besteht darin, dass er unfassbar lange wie angewurzelt auf der Wiese steht und dabei an sich herunter oder auf die nahe Umgebung blickt. Dann beginnt er irgendwann mit Teil 2 seiner, sagen wir, Übungen: Er umläuft das Park-Rechteck mit stark verlangsamten Gehschritten unzählige Male, bis er wieder in den Stand wechselt. Niemals macht er irgendeine schnelle Bewegung. In der Abenddämmerung sehe ich von meinem Balkon, dass er immer noch da ist. Wie hält er diesen Stunt der besonderen Art aus? Ich nenne ihn den Olympioniken, wenngleich seine Disziplin noch nicht akkreditiert ist. 

Ein in die Jahre gekommener, etwas dicklicher Herr flaniert gegenüber von meiner Wohnung am Park entlang. Er hat eine blaue Tasche geschultert und hält ein dickes zerfleddertes Buch in der Hand. Von Zeit zu Zeit bleibt er stehen, öffnet das Buch, schaut mit einer großen Lupe hinein und blickt dann für eine Weile bedeutungsvoll zum Himmel. Circa alle zwanzig Meter tut er das. Obwohl immer Tag war, wenn er auftauchte, nannte ich ihn den Sternendeuter. Eines Tages sehe ich aus der Nähe, dass sein Buch die Bibel ist. Seither nenne ich ihn den Gottessucher.

Ein Pärchen in den mittleren Jahren, er schmal und lang, sie schmächtig, geht jeden Tag im Eiltempo schweigend und blass an meinem Haus vorbei, wobei die beiden wie automatisiert fast im Gleichschritt laufen, was bei ihrer unterschiedlichen Größe nicht einfach ist. Sie sind für meine Begriffe nie warm genug angezogen, immer nur T-Shirts. Vor allem im Winter lässt mich dies frieren. Sie sind immer zu zweit und wirken wie abgeschottet von der restlichen Welt. Für mich sind sie schlicht „das Paar“.

Ein untersetzter älterer Herr spaziert jeden Tag durch meinen Park. Sein Antlitz hält er immer unter einem hellen, breitkrempigen Strohhut verborgen, den er sich tief ins Gesicht gezogen hat. Die Hände hat er wie der Heilige Soundso vor der Brust gefaltet. Ich nenne ihn aber den Vietkong oder den Reisbauern auf Besuch in der Stadt. Neulich hatte er ausnahmsweise eine Art von Tiroler Hut in Hellgrün auf dem Kopf, aber seine Augen sah man trotzdem nicht.

Ein eher kleiner Mann in meinem Alter, also Mitte siebzig, steuert täglich die Stadtbücherei neben meinem Park an. Mit einem Rucksack auf dem Rücken und einer umgehängten Tasche mit herausragenden Dokumenten überquert er die breite Straße vor meinem Balkon. Unter der Achsel seines freien Arms hat er sein Laptop geklemmt. Er mag sichtlich buntscheckige Kleidung. Ich weiß, dass er vor gut fünfzig Jahren mit mir Soziologie studiert hat. Danach scheint er beruflich nicht sonderlich reüssiert zu haben oder daran nicht interessiert gewesen zu sein. Ich nenne ihn den Forscher.

Einem hoch aufgeschossenen, fettarmen Lulatsch mittleren Alters mit wirrer Frisur begegne ich immer wieder mal auf der Straße hinter meinem Haus. Seine Ohren, sein Gesicht sind metallisch verpixelt. Er trägt eine grünrandige Brille und schwarze Halbstiefel mit Silbernägeln. Auch er scheint Kleidung mit krass gegensätzlichen Farben zu mögen. Er spielt auf seinem Smartphone und steuert, während er geht, aus der Ferne die Geschäfte in seinem Bistro andernorts. Er ist irgendwie „immer auf cool“.

Ein Mann um die 60 sitzt täglich mit seinem gesamten Hab und Gut auf einem Steinblock vor meinem Supermarkt. Stundenlang tut er das. Sein Gesicht zeigt stets eine kaum erkennbare sardonische Fröhlichkeit, ansonsten keinerlei Regung. Wirklich gar nichts. Er spricht nicht, er bettelt nicht, bewegt sich kaum. Fast katatonisch mutet das an. Wenn es regnet, legt er sich eine dunkelgrüne Pelerine um und sitzt weiter so da. Und doch: neulich hat er ausnahmsweise etwas vor sich hingeredet, es hörte sich an wie ein Brabbeln, vielleicht aber eine Sprache, die ich nicht kenne. Ich nenne ihn den Stoiker. Was mag in ihm vorgehen?

Ein anderer Mann in hohem Alter fuhr täglich seine Zigarre spazieren. Brennend jonglierte er den qualmenden Trumm in seinem Mund, eine dicke Brasil, während er sein uraltes Fahrrad gemächlich durch den Kiez und um meinen Park herum lenkte. Dabei erinnerte er mich in seiner Pose mit kerzengeradem Rücken an den herrlichen Monsieur Hulot aus alten französischen Tati-Filmen. Nun ist er seit Wochen nicht mehr erschienen. Ich komme ins Grübeln.

Auf der Suche nach Pfandflaschen durchwühlt ein junger Mann im strömenden Regen den Abfalleimer neben der Bank in meinem Park. Zunächst zieht er etwas langes Schwarzes aus dem Einer, was ich erst einmal nicht definieren kann und was er auf der Bank ablegt. Ein paar Minuten später kommt eine Frau an der Bank vorbei, ergreift sichtlich angetan das Ding auf der Bank, stülpt es auf und hält es sich über die nassen Haare. Es ist ein oller Regenschirm. Es gibt neuerdings immer mehr Menschen, die öffentliche Eimer und Körbe durch-suchen, aber das mit dem Schirm ist für mich neu. 

Vor einem angesagten Café, unweit von dort, wo ich wohne, sitzen bei gutem Wetter viele junge und mittelalterliche Leute draußen. Sie trinken Latte und beißen in kreativ gestaltete Nervennahrung. Obwohl durchaus unterschiedlich, sehen sie für mich alle merkwürdig gleich aus. Die meisten von ihnen sind, wie ich weiß oder ahne, beim hohen Gericht um die Ecke angestellt oder dort als Externe im Termin-Einsatz. Auch ich hatte dort mal „zu tun“, aber anders.

Wenn ich auf meinem Balkon sitze, höre ich das Grollen der Räder der durch meine Straße fahrenden Trams. Ähnliche Geräusche verursachen immer wieder auch sichtlich verspätete, gut berufsgekleidete Zeitgenossen, die im Sturmschritt ihre Rollkoffer ziehen oder schieben, um den nahen Bahnhof noch rechtzeitig zu erreichen. Meistens Männer, eher selten auch Frauen. Sie wirken wie auf der Flucht befindlich. Ich fiebere mit ihnen mit, während ich gemächlich an meiner Sumatra sauge.

An meinem Balkon entlang verläuft auf Sichtweite ein Radweg. Dort fahren Radler mit phantasievollen Fahrrad- und Lastrad-Konstruktionen entlang. Viele mit einem Affenzahn. Andere führen Kunststückchen vor, indem sie das Vorderrad abrupt hochreißen oder freihändig fahren und dabei telefonieren. Auch hoch riskante Ausweichmanöver halten den Beobachter in Spannung.

Im Park mit Schwanenteich ohne Schwäne vor meiner Haustür gibt es ein paar stolze und pfiffige Enten. Wenn Familien mit Kleinkindern kommen, laufen die Kleinen sofort los, um die Enten über die Wiese zu jagen und nach ihnen zu treten oder etwas zu werfen. Die Eltern scheinen sich nichts dabei zu denken. Die Enten machen sich manchmal den zweifelhaften Spaß, die freilaufenden Menschenküken auf die belebte Fahrstraße zu locken. Dann stockt mir der Atem.

Eine alte Frau, schon sehr gebrechlich, kam gelegentlich bei mir auf der Straße vorbei und setzte sich auf die Bank am Park. Ihr Fahrrad, das sie immer schob, war schwer bepackt mit Zeug in Plastiktüten. Auf der Bank sitzend nahm sie eine undefinierbare Vesper zu sich und schrie sich zwischendurch mit fuchtelnden Armen markerschütternd ihre Qual aus der Seele. Auch sie erscheint nun seit einer Weile nicht mehr.

Ein junger Mann, von Westen kommend, eilt regelmäßig in meinen Park, legt sorgfältig eine Decke unter einem buschigen Baum auf den Boden, geht auf die Knie und betet im Auf- und Nieder-Rhythmus mit ausgestreckten Armen zu seinem großen Gott im Himmel. In meiner Stadt sieht man das noch nicht oft, es ist erst der Anfang. Ich sehe ihn von meinem Fenster aus. Seine Worte kann ich nicht hören. Ich weiß aber seither besser als zuvor, wo Osten ist, die hiesige Gebetsrichtung qibla nach Mekka hin.

Nicht selten gehe ich in eine Kaffeebar unweit von zu Hause, um mir bei einem starken Schwarzen einen Rübli-Kuchen zu gönnen. Immer, aber wirklich immer, ist eine filigrane Dame mit blondem Haarschopf und markantem Kinn schon da, auffällig auch ihre flackernden Augen. Sie isst und liest Zeitung und hantiert ständig mit ihren Händen herum. Ab und zu verschwindet sie ohne ihre Sachen nach draußen ins Nirgendwo, um nach Minuten wiederzukommen. Es ist, als wohnte sie in dem Szene-Café. Auch an anderen Destinationen im Kiez ist diese Person des öffentlichen Lebens oft schon da, wenn ich komme, etwa beim Fest auf der Piazza. Ich nenne sie in meinem Kopf spaßig „die Stalkerin“. Das ist ungerecht, denn sie stalkt nicht, sie ist sie selbst.

Einmal wöchentlich versammelt sich im Park, auch wenn es nieselt, eine tapfere Runde von Frauen und wenigen Männern zur Gruppengymnastik im Freien. Dehnen, schütteln, tänzeln…das ganze Programm eben. Ohne dies kommt man heutzutage ja kaum noch durchs Leben. Das ist dann auch meine Stunde. Ich erhebe mich aus meinem Balkonsessel, lege die brennende Zigarre beiseite und wippe, hüpfe und verbiege mich mit – im Rhythmus der Gruppe. In der Ökonomie, die bekanntlich aufs Geld schaut, nennt man dies „externe Effekte des Marktgeschehens“.


Begegnet man MIR im Kiez, so sieht man einen in Gedanken versunkenen Senioren mit weißgrauen Haaren, der wegen diverser Hüft- und Rückenzipperlein und seiner Fersensporne immer wieder mal tippelt, statt konsequent über die Sohlen federnd abzurollen, wie sich das gehörte. Schmerzvermeidung! Er wirkt, nicht selten auch schmunzelnd, in Gedanken versunken, obwohl er Passanten und Passantinnen zugleich interessiert beäugt bei seinen Streifzügen zu Destinationen wie Supermarkt, Café,  Post oder Parkbank. Bisweilen geht der Tippelbruder unbedacht und nachlässig riskante Wege, sodass es nicht wundernähme, wenn ihn eines Tages ein Bus oder Auto streifen würde. Dann wäre Schluss mit lustig.

Ende? Fortsetzung folgt. Vielleicht.

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